Winterregen (Weirdos) - Eine Story von Robin

 

Kapitel 18 - Schrecksekunden

Eigentlich hatten wir Thomas noch zum Abendessen zurück in der Klinik erwartet. Der letzte Bus kam sonntags kurz vor Sechs am Ortsplatz an. Er musste sich also nicht einmal besonders beeilen, wenn er sich noch über das Büffet hermachen wollte. Doch Thomas tauchte nicht auf. Zuerst dachten wir, dass er sich für den Weg von der Bushaltestelle zur Klinik eben doch mehr Zeit gelassen hatte als üblich oder dass der Bus vielleicht Verspätung gehabt hatte. Als dann das Personal aber damit begann, die Schüsseln und Tabletts abzuräumen, von Thomas dagegen immer noch weit und breit nichts zu sehen war, wurden wir doch etwas unruhig. Freiwillig ließ sich Thomas sonst nämlich keine Mahlzeit entgehen.

»Seht doch mal auf seinem Zimmer nach. Vielleicht ist er ja schon da und hatte nur keinen Hunger«, schlug Gudrun vor.

»Oder er ist auf dem Dach und raucht eine«, fügte Nadine hinzu.

»Na gut, ich geh mal nachsehen«, bot ich mich an.

Kevin erhob sich ebenfalls von seinem Stuhl.

»Warte, ich komm mit.«

»Wir schmieren ihm noch schnell ein paar Brote, solange es noch was zu Essen gibt. Nicht dass er uns noch verhungert.«

Gudrun war also noch zu Scherzen aufgelegt. So besonders Ernst nahm Thomas' Fehlen zu diesem Zeitpunkt wohl noch keiner von uns. Als Kevin und ich dann oben vor seinem Zimmer standen, pochte mein Herz trotzdem ein wenig. War Thomas wirklich noch nicht hier? Es war doch schon kurz nach Sieben. Selbst wenn der Bus Verspätung gehabt hatte und Thomas ganz gemächlich zurück zur Klinik geschlendert war, hätte er inzwischen längst hier sein müssen. Ich klopfte an, zuerst leise, dann lauter. Nichts rührte sich. Kevin drückte die Klinke hinunter, doch die Türe ließ sich nicht öffnen.

»Abgeschlossen«, stellte er fest.

»Sehen wir auf dem Dach nach«, schlug ich vor, obwohl ich irgendwie schon wusste, dass wir Thomas auch dort nicht finden würden.

Mein ungutes Gefühl bestätigte sich. Uns blieb nichts anderes übrig, als wieder zu den Mädchen in den Speisesaal zurückzukehren. Die sahen es wohl schon an unseren Gesichtern, dass wir keinen Erfolg gehabt hatten.

»Vielleicht hat er ja den Bus verpasst, oder den Anschlusszug«, meinte Gudrun, nachdem wir wieder Platz genommen hatten.

»Dann sieht's übel für ihn aus, weil später kein Bus mehr fährt«, erwiderte ich. »Aber eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Er hatte überall genügend Aufenthalt.«

Wir sahen uns ratlos an. Was konnte nur passiert sein?

»Und? Was machen wir jetzt?« wollte Kevin schließlich wissen.

»Also, mal angenommen, dass Thomas unterwegs tatsächlich irgendwo festsitzt. Vielleicht versucht er ja dann, uns zu erreichen. Ich meine, schließlich kennt er ja die Durchwahl von unserem Zimmer.«

»Dann solltet ihr beide besser nach oben gehen und auf seinen Anruf warten«, schlug Gudrun Kevin und mir vor. »Und wir drei sehen uns noch mal in der Klinik nach ihm um.«

Wir eilten sofort los. Kevin rannte die Treppe nach oben, als würde er bereits von unten das Telefon in unserem Zimmer klingeln hören. Ich konnte ihm mal wieder kaum folgen. Der Apparat jedoch tat keinen Mucks, als wir oben ankamen. So blieb uns nichts anderes übrig, als untätig herumzusitzen. Wir begannen, die wildesten Spekulationen darüber anzustellen, warum Thomas immer noch nicht zurück war. War er in den falschen Zug gestiegen? Oder war er in Langenbergen vielleicht sogar seinem Vater in die Hände gelaufen?

»Vielleicht ist er ja überhaupt nicht losgefahren?« mutmaßte Kevin schließlich.

»Du meinst, er ist noch bei Stefan?«

»Ja, könnte doch sein, oder?«

»Ach komm, dann hätte sich doch wenigstens Stefan bei uns gemeldet, damit wir Bescheid wissen und uns keine Sorgen machen.«

»Stimmt. Stefan ist viel zu verantwortungsvoll. Der hätte auch nie zugelassen, dass Thomas nicht zurückfährt.«

Wieder kehrte ratloses Schweigen ein. Während ich direkt neben dem Telefon sitzen blieb und darauf wartete, dass es endlich klingelte, lief Kevin unruhig im Zimmer auf und ab.

»Los, wir rufen jetzt einfach bei Stefan an«, sagte er plötzlich entschlossen. »Vielleicht weiß der ja, was los ist.«

»Stimmt, das hätten wir eigentlich schon längst machen sollen.«

»Hast du die Nummer noch?«

»Ja.«

»Dann ruf an! Diese Warterei macht mich sonst noch wahnsinnig.«

Ich kramte die Nummer der Cityklinik Langenbergen hervor und fürchtete schon, dass Stefan überhaupt nicht in seinem Zimmer im Personalwohnheim war. Die Frau in der Telefonzentrale stellte mich dann aber zum Glück schnell zum Telefon auf seiner Etage durch. Es klingelte fünf oder sechs Mal, dann wurde der Hörer abgenommen.

»Stefan Kunze«, meldete sich eine Stimme.

»Hallo Stefan. Hier ist David Kranitz. Du weißt schon, der aus der Klinik in Bad Neuheim.«

»Ist was mit Thomas?« war das nächste, was Stefan sagte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er über meinen Anruf richtig beunruhigt war.

»Er ist noch nicht zurück in der Klinik«, antwortete ich vorsichtig.

»Oh Mann, Scheiße«, hörte ich Stefan ausrufen.

Dann trat für einen Moment Stille ein. Nur ein leises Rascheln und Stefans aufgeregtes Atmen waren zu hören. Ich überlegte fieberhaft, was ich sagen sollte, doch dann sprach er weiter. Ich glaubte, so etwas wie Verzweiflung aus seiner Stimme herauszuhören.

»Ich hab ihn doch noch extra zum Zug gebracht und gewartet, bis er abgefahren ist.«

Das hörte sich fast so an, als ob er erwartet hatte, dass etwas passieren würde.

»Ist zwischen euch irgendwas vorgefallen?« wollte ich wissen.

»Ach, er wollte, dass ich mit ihm abhaue.«

»Hä? Was? Wieso?«

»Ich weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Gestern war noch alles in Ordnung. Sogar das Treffen mit meiner Mutter ist ganz gut gelaufen. Aber seit heute Morgen ...«

Er geriet ins Stocken.

»Scheiße Mensch, was hätte ich denn machen sollen?« stieß er verzweifelt aus.

»Hey, dreh jetzt nicht durch«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Erzähl erst mal, was genau passiert ist.«

»Naja, Thomas ist mir den ganzen Tag damit in den Ohren gelegen, dass ich mit ihm abhauen soll. Ich weiß noch nicht mal, wie er da drauf gekommen ist.«

»Abhauen? Wohin denn?«

»Irgendwohin. Möglichst weit weg von seinem Vater halt. So dass der nicht rausfinden kann, wo wir sind. Ich hab ihn gefragt, wie er sich das vorstellt. Ich meine, ich bin schließlich mitten in der Ausbildung. Da kann ich doch jetzt nicht einfach weg. Und Thomas ist noch nicht mal mit der Schule fertig. Ohne Geld und ohne Job, wie soll das denn gehen?«

»Hast du ihm das klar gemacht?«

»Ja sicher. Was weiß ich, wie oft ich ihm gesagt hab, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, von hier wegzugehen. Auch wegen meinen Eltern und so. Ich hab auch gedacht, er hätte das eingesehen. Und jetzt? Oh Mann, wo kann er jetzt nur sein?«

»Beruhig dich erst mal. Er taucht sicher bald wieder auf. Hey, wo soll er denn auch hin? Er hatte ja nicht mal genug Geld für die Fahrkarte zu dir. Wenn Kevin und ich ihm nicht was geliehen hätten ...«

Stefan fiel mir ins Wort.

»Meine Mutter hat ihm gestern 50 Euro zugesteckt.«

Im Geiste sah ich Thomas bereits im Zug nach Berlin oder in eine andere Großstadt sitzen. Ich versuchte, diesen Gedanken schnell wieder zu verdrängen.

»Hey, auch mit 50 Euro kommt er nicht weit. Jetzt wart erst mal ab. Außerdem sind ja noch die meisten seiner Sachen hier.«

Besonders überzeugend fand ich meine Argumente nicht. Gerade das letzte war alles andere als stichhaltig. Was besaß Thomas denn schon großartiges? Bis auf ein paar Klamotten hatte er so gut wie nichts mitgebracht. Da war kein teurer Discman und keine CDs, die er vermissen konnte. Er hatte auch sonst keine Gegenstände hier gelassen, an denen er hing. Stefan schien ebenfalls nicht besonders beeindruckt von meinen Darlegungen zu sein. Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als ihn jetzt mit der Ungewissheit über Thomas' Verbleib alleine zu lassen.

»Stefan, wir sollten besser Schluss machen, damit das Telefon frei ist. Vielleicht versucht Thomas ja doch noch, bei dir oder hier bei uns anzurufen.«

»Okay. Meldet euch bitte gleich bei mir, wenn ihr was erfahrt.«

»Klar, machen wir.«

Ich gab ihm noch schnell die Rufnummer unseres Zimmers, damit auch er uns jederzeit erreichen konnte. Dann verabschiedete ich mich von ihm.

»Was sollen wir jetzt tun?« wollte Kevin wissen, als ich den Hörer aufgelegt hatte. Er hatte über den Lautsprecher alles mit angehört.

»Keine Ahnung.«

»Vielleicht sollten wir in der Zentrale Bescheid sagen.«

»Und dann? Was sollen die denn machen? Die Polizei einschalten? Eine Vermisstenanzeige aufgeben?«

»Auf jeden Fall wissen die besser, was zu tun ist.«

»Und wenn Thomas doch noch auftaucht und dann Ärger bekommt?«

Kevin zuckte ratlos mit den Schultern. Ich sah hinüber auf meinen Wecker. Es war noch nicht einmal 20 Uhr.

»Warten wir noch bis Neun«, schlug ich vor. »Wenn Thomas sich dann immer noch nicht gemeldet hat, können wir ja jemanden von der Klinik verständigen.«

»Einverstanden.«

Die nervtötende Warterei ging also weiter. Unsere Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Ab und zu sah eines der Mädchen vorbei, um sich zu erkundigen, ob es etwas Neues gab. Die Suchaktion der drei war erfolglos geblieben, aber das war ja nicht anders zu erwarten gewesen. Jetzt saßen sie an einer Sitzgruppe in der Cafeteria, direkt vor einem Fenster, durch das sie den Weg im Blick hatten, der zum Kellereingang führte.

Der Gang zur Zentrale blieb uns dann aber doch erspart. Kurz nach halb Neun klopfte es an unserer Zimmertüre, so leise, dass ich es fast überhört hätte. Wenn Kevin nicht sofort aufgesprungen wäre, hätte ich vielleicht überhaupt nicht darauf reagiert. Thomas stand draußen. Er wirkte völlig verstört und eingeschüchtert.

»Hey, Mann, wo warst du die ganze Zeit?« schrie Kevin ihn fast an. Die Anspannung der letzten anderthalb Stunden suchte sich bei ihm wohl ein Ventil.

»Jetzt komm erst mal rein«, forderte ich Thomas auf und versuchte möglichst gelassen zu bleiben.

Mit gesenktem Kopf trottete er an Kevin und mir vorbei und ließ sich in einen der Stühle fallen.

»Seid ihr sauer?« fragte er leise.

»Mann, wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Wir alle! Was glaubst du, wie fertig Stefan ist?«

»Habt ihr dem was gesagt?«

»Ja klar, was denkst du denn? Hätte ja sein können, dass er weiß, wo du abgeblieben bist.«

Thomas seufzte tief und rieb sich niedergeschlagen mit beiden Händen über das Gesicht.

»Jetzt sag uns endlich, wo du so lange gewesen bist!« verlangte Kevin schließlich.

Der hatte inzwischen auf seinem Bett Platz genommen. Ich setzte mich neben ihn auf die Matratze, damit ich Thomas ebenfalls im Blick hatte und nicht die ganze Zeit auf seinen Rücken starren musste. Thomas sah uns mit halb zusammengekniffenen Augen an.

»Mann, ich wollte abhauen«, erwiderte er mit einer Mischung aus Missmut und Trotz. Dann wandte er seinen Blick wieder der Tischplatte zu.

Im Moment schien er an einem Punkt zu sein, an dem ihm alles egal war. Selbst wenn wir ihn jetzt angeschrieen und ihm laut Vorwürfe gemacht hätten, hätte er das wohl still über sich ergehen lassen.

»Ich wusste halt nicht, wohin«, fuhr er leise fort.

»Und? Was hast du dann gemacht?«

»Naja, zuerst wollte ich ja wirklich nur hierher zurückfahren. Aber dann bin ich einfach im Zug sitzen geblieben.«

»Und dann?«

Im Moment schien man ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen zu müssen.

»Irgendwann hat mich der Schaffner rausgeworfen. In irgend so 'nem Kaff.«

Naja, Nahverkehrszüge waren ohnehin nicht das geeignete Verkehrsmittel, wenn man möglichst weit weg wollte. Viel weiter wäre Thomas wahrscheinlich auch dann nicht gekommen, wenn der Schaffner nicht bemerkt hätte, dass er für diese Strecke keine gültige Fahrkarte besaß.

»Was ist dann passiert?«

»Dann wollte ich eigentlich wieder zurück in die andere Richtung. Aber es ist kein Zug mehr gefahren.«

»Und was hast du dann gemacht?«

»Erst mal bin ich 'ne Weile vor dem Bahnhof rumgehockt.«

»Und dann?«

»Dann hab ich versucht, per Anhalter zu fahren ... aber ich wusste ja nicht mal, in welche Richtung ich muss ... dann hat mich irgendwann so 'ne Oma mitgenommen ... die hat gesagt, sie fährt Richtung Bad Neuheim ... aber die ist dann nur bis ins nächste Kaff gefahren ... das war so'n Kuhdorf mit vier Häusern oder so.«

Thomas ließ sich für seinen Bericht viel Zeit. Nach jedem Satz machte er eine längere Pause. Ich war mir sicher, dass er mich damit in den Wahnsinn treiben würde, falls seine Geschichte noch lange dauerte.

»Los, erzähl schon weiter«, drängelte Kevin. Auch seine Nerven schienen blank zu liegen. »Was hast du dann gemacht?«

»Mann, dann bin ich wieder zurück in das Dorf gelaufen, wo der Bahnhof war.«

Ich wusste nicht, ob ich nun laut loslachen oder doch besser weinen sollte. Ich entschloss mich, einfach nur tief durchzuatmen und leise bis zehn zu zählen. Thomas schien seine Aktion immerhin ziemlich peinlich zu sein. Er wusste wohl, dass er sich ziemlich dumm angestellt hatte.

»Was hätte ich denn sonst machen sollen?« verteidigte er sich. »Durch das andere Kaff ist ja kaum ein Auto gefahren. Bis mich da jemand mitgenommen hätte ...«

»Und was hast du gemacht, als du wieder am Bahnhof warst?«

»Naja, da stand dann so'n Taxi rum«, antwortete er kleinlaut.

Jetzt konnte ich wirklich nur noch grinsend den Kopf schütteln. Währenddessen griff Thomas in seine Hosentasche und brachte ein paar Münzen zum Vorschein. Er ließ sie geräuschvoll auf den Tisch rollen. Eine davon zog ein paar Kreise bevor sie auf die Seite fiel.

»Wisst ihr, wie schweineteuer das war? Das da ist alles, was noch übrig ist.«

Seine Stimme hörte sich an, als wäre er gerade um die Ersparnisse seines gesamten Lebens gebracht worden. Jetzt konnte ich nicht mehr anders. Ich ließ mich zur Seite fallen, vergrub mein Gesicht in Kevins Bettdecke und lachte still in mich hinein. Irgendwie empfand ich die gesamte Situation nur noch als absurd. War das noch die reale Welt oder war ich irgendwann ohne es zu merken in ein Paralleluniversum abgedriftet? Das alles konnte doch nicht wirklich passiert sein. So was konnte sich doch nur ein völlig durchgeknallter Schriftsteller ausdenken. Als ich mich dann aber wieder aufrichtete, sah alles noch genauso aus wie zuvor. Thomas saß immer noch mit gesenktem Kopf am Tisch und Kevin sah mich grinsend an. Wenigstens er schien das alles inzwischen ziemlich locker zu nehmen.

»Ich kann nicht mehr«, sagte ich zu ihm. »Ich brauch jetzt irgendwas zu trinken. Irgendwas mit Alkohol. Sonst dreh ich wirklich langsam durch. Ruft ihr bei Stefan an. Ich geh runter in die Cafeteria und sag den Mädchen Bescheid, dass Thomas jetzt hier ist.«

Damit ließ ich die beiden alleine im Zimmer zurück. Ich brauchte ziemlich lange, bis ich mir sicher war, wieder in der Realität angekommen zu sein.

 

Kapitel 19 - Achtzehn

Am Montag standen dann in unserer freien Zeit die Vorbereitungen für Nadines achtzehnten Geburtstag auf dem Programm. Gudrun hatte schon in weiser Voraussicht die Diatlehrküche für uns reserviert. Schließlich brauchte man für so eine Festlichkeit auch eine Torte. In erster Linie war die Lehrküche ja für Patienten mit Essstörungen gedacht. So sollten zum Beispiel die übergewichtigen Patienten hier lernen, wie man sich gesund ernährte. Wenn gerade keine Veranstaltungen stattfanden, konnte sich aber trotzdem jeder in der Küche betätigten, der dazu Lust hatte. Man musste sich nur rechtzeitig in eine Liste eintragen.

Während Christina dafür sorgte, dass Nadine von unserer Aktion nichts bemerkte, machten Gudrun und wir Jungs uns daran, zuerst einmal die Zutaten abzuwiegen. Naja, eigentlich leisteten wir Gudrun bei dieser Arbeit nur Gesellschaft. Backen war irgendwie nicht unsere Stärke. Dabei wollten wir ja wirklich helfen. Für Gudrun schienen wir das mit dem Abwiegen nur nicht genau genug zu machen. War es denn wirklich so wichtig, ob da jetzt ein paar Gramm Zucker mehr oder weniger in den Teig kamen? Jedenfalls bekamen wir schnell ihre resolute Art zu spüren, indem sie uns überzeugend klarmachte, dass wir uns entweder genau an das Rezept halten oder ihr besser möglichst weit aus dem Weg gehen und von nun an nichts mehr anfassen sollten. Naja, um den Teig dann gut durchzurühren und die Backform mit Fett auszustreichen, waren wir dann doch wieder gut genug.

Nachdem der Kuchen schließlich fertig gebacken und eine Weile abgekühlt war, durften wir ihn sogar ganz ohne Gudruns Aufsicht mit geschmolzener Schokolade bestreichen. Ich fragte mich schnell, ob die Idee, uns bei dieser Arbeit alleine zu lassen, besonders gut gewesen war, denn Kevin fand das mit dem Anpinseln irgendwie zu umständlich. Er goss die Schokolade lieber direkt auf die Torte und kümmerte sich nicht im Geringsten darum, dass ich die flüssige Masse überhaupt nicht so schnell verteilen konnte. Mindestens ein Drittel lief an den Seiten hinunter und bildete auf der Arbeitsplatte mehrere braune Pfützen. Thomas leckte sofort alles gierig auf und amüsierte sich ansonsten prächtig darüber, was Kevin und ich da fabrizierten. Seine Aktion vom letzten Abend schien er längst abgehakt zu haben. Heute Morgen beim Frühstück hatte er sich noch einmal bei uns allen kleinlaut dafür entschuldigt und hoch und heilig versprochen, dass sich so etwas nicht wiederholen würde. Denn dass das ganze eine ziemliche Schnapsidee gewesen war, hatte er inzwischen längst eingesehen. Seitdem schien die Welt für ihn jedenfalls wieder in Ordnung zu sein. Nur mit Stefan hatte sich noch nicht wieder alles eingerenkt. Ob die beiden sich auch am kommenden Wochenende wieder sehen würden, war noch nicht ganz klar. Ich hatte fast den Eindruck, dass Stefan sich mit Thomas im Moment ein wenig überfordert fühlte. Eine ernstere Krise schienen die beiden aber nicht zu haben.

Irgendwann war die Torte dann doch einigermaßen gleichmäßig mit Schokolade bedeckt. Naja, wir hatten ja auch genug von dem Zeug eingeschmolzen. An den Seiten schaute zwar noch hier und da der Teig heraus, dafür war die Schicht aber an den Stellen umso dicker, an denen die Masse vorhin hinunter gelaufen war. Zum Schluss formten wir in der Mitte der Torte aus bunten Smarties noch hastig eine große 18 und natürlich durften auch 18 Kerzen nicht fehlen. Die wollten zwar nicht so recht stehen bleiben, weil der Schokoguss inzwischen an den meisten Stellen ziemlich fest war. Trotzdem fand ich, dass wir das Ganze recht passabel hinbekommen hatten. Na gut, die Gesellenprüfung für Konditoren würden wir damit sicher nicht bestehen. Wahrscheinlich hätte man uns in jeder besseren Konditorei sogar vor die Tür gesetzt, wenn wir mit dem Ding dort aufgekreuzt wären und nach einer Lehrstelle gefragt hätten. Ich war trotzdem der Meinung, dass unser Werk ziemlich lecker aussah.

Am nächsten Tag war es dann soweit. Schon am frühen Morgen versammelten wir uns vor Nadines und Christinas Zimmer, mit der Torte und unseren Geschenken in den Händen. Christina hatte sich bereits aus dem Zimmer geschlichen und stand mit uns zusammen vor der Tür, als wir begannen 'Happy Birthday to you' zu singen.

»Ach, ihr seid echt lieb«, sagte Nadine strahlend, als sie die Türe öffnete.

Wir ließen sie die Kerzen auf der Torte auspusten und reichten ihr dann die Geschenke.

»Och, is der aber niedlich«, stieß sie freudig aus, als sie unseren Teddybär an sich drückte.

Richtig zum Feiern kamen wir dann aber erst am Abend. Dafür hätten wir aber auch die ganze Nacht durchgefeiert, wenn uns die Nachtwache nicht irgendwann höflich aber bestimmt aus dem Raum vor der Dachterrasse vertrieben und auf unsere Zimmer geschickt hätte.

 

Kapitel 20 - Der Anruf

Normalerweise hielten wir uns auch jeden Tag nach der Gruppentherapie eine ganze Weile auf dem Klinikdach auf. Inzwischen konnte man das sogar als festes Ritual bezeichnen. Oft verbrachten wir dort oben die gesamte Zeit bis zum Abendessen. Seit Thomas zu uns in die Gruppe gekommen war, hatte sich der Raum mit den großen Fenstern einfach als optimaler Aufenthaltsort für uns erwiesen. Zum einen konnte Thomas jederzeit hinaus auf die Terrasse gehen, um sich eine Zigarette anzustecken. Und die hatte er nach den anderthalb Stunden bei Frau Fröschl eigentlich immer nötig. Zum anderen war es dort oben ruhig und wir konnten uns ungestört unterhalten. Wie wir letztendlich darauf gekommen waren, auch die Zeit nach der nachmittäglichen Therapiestunde dort zu verbringen, wusste inzwischen wohl keiner von uns mehr so genau. Jedenfalls konnte ich mir einen Tag ohne diesen Ritus kaum noch vorstellen.

Trotzdem ließen Kevin und ich am Mittwoch die anderen schon nach einer Viertelstunde alleine dort oben zurück und gingen hinunter auf unser Zimmer. Kevin hatte mit seinen Eltern vereinbart, dass sie sich irgendwann zwischen fünf und sechs Uhr melden sollten, um Bescheid zu geben, ob sie gut im Allgäu angekommen waren. Sicherheitshalber waren wir aber schon ein paar Minuten früher im Zimmer. Natürlich hätte es Kevin auch ganz gut alleine geschafft, auf den Anruf zu warten. Warum ich überhaupt mit ihm gegangen war, wusste ich selbst nicht so genau. Vielleicht war ich einfach nur müde und wollte ein wenig Ruhe haben. Nadines Geburtstagsfeier hatte gestern ja ziemlich lange gedauert, so dass ich in der Nacht nicht gerade viel Schlaf bekommen hatte.

Während wir darauf warteten, dass das Telefon klingelte, vertrieben wir uns die Zeit mit Lesen. Irgendwie fand ich das Buch, das ich angefangen hatte, aber nicht besonders aufregend. Vielleicht wäre 'Die Mitte der Welt' doch die bessere Wahl gewesen. Andererseits war mir der Gedanke irgendwie zuwider, ein Buch zu lesen, in dem vielleicht zwei Jungs miteinander glücklich wurden, während ich selbst so langsam die Hoffnung aufgab, in absehbarer Zeit einen Boyfriend zu finden. Irgendwie spürte ich auch immer noch jedes Mal eine gewisse Wehmut, wenn ich an Daniel dachte. Wie war es ihm wohl in der Woche seit seiner Abreise ergangen?

Ich blätterte mich durch die Seiten, ohne richtig bei der Sache zu sein. Wahrscheinlich wäre es sowieso sinnvoller gewesen, wenn ich mich mal wieder mit schulischen Dingen beschäftigt hätte. Ich durfte gar nicht daran denken, wie viel Stoff ich in den letzten Wochen versäumt hatte und wie viele Klausuren ich würde nachholen müssen. Außerdem war ich mir immer noch nicht sicher, ob die Therapie hier in dieser Hinsicht überhaupt etwas brachte. Ich lernte zwar verschiedene Entspannungstechniken, die mir dabei helfen sollten, Nervosität oder eine eventuell aufkommende Panik bei zukünftigen Prüfungen zu vermeiden. Ob das Ganze in der Praxis ebenfalls funktionierte, wusste ich aber nicht. Wenigstens war ich mir inzwischen über eines klar geworden. Ich würde weiter zur Schule gehen und zumindest versuchen, das Abitur zu schaffen. Ansonsten hätte ich mir sämtliche Versuche, meine Prüfungsangst unter Kontrolle zu bringen, ja auch gleich sparen können. Ich würde eben versuchen, viel gelassener als bisher an die Sache heranzugehen und es nicht allzu wichtig zu nehmen, ob am Ende auch eine gute Note heraussprang. Naja, eigentlich war ich recht zuversichtlich, das auch zu schaffen.

Während ich mir Gedanken über meine Zukunft machte, sah Kevin immer wieder auf die Uhr. Die Minuten vergingen, ohne dass seine Eltern sich meldeten.

»So langsam könnten sie aber echt mal anrufen«, sagte er ungeduldig. »Die sind doch garantiert schon vor ein paar Stunden angekommen.«

»Naja, zwischen fünf und sechs war vereinbart. Und bis sechs ist's noch 'ne gute Viertelstunde.«

»Na gut, wenn du meinst«, antwortete er. »Ich muss jedenfalls jetzt mal kurz aufs Klo.«

»Beeil dich«, erwiderte ich grinsend.

Mit einem Blick, der wohl so etwas wie 'Ich kann doch auch nichts dafür, dass ich ausgerechnet jetzt muss' ausdrücken sollte, verschwand er im Bad.

Ich drehte mich auf die andere Seite und widmete meine Aufmerksamkeit wieder meinem Buch. Ich hatte kaum ein paar Sätze gelesen, da klingelte das Telefon.

»Na super!« hörte ich Kevin aus dem Bad rufen. »Ausgerechnet jetzt!«

Es bimmelte zum zweiten Mal.

»Geh du mal ran. Ich bin noch nicht ganz soweit.«

Ich ließ es noch zweimal läuten, weil ich hoffte, dass Kevin vielleicht doch schon fertig war. Als er dann aber immer noch nicht aus dem WC gestürmt war, nahm ich schließlich selbst den Hörer ab.

»Winter und Kranitz. David Kranitz am Telefon.«

Zu Beginn unseres Aufenthalts in der Klinik hatte ich nie gewusst, wie ich mich melden sollte. Schließlich erkannte man nicht am Klingelzeichen, ob der Anruf nun für mich oder für Kevin war. Meistens hatte ich einfach bloß 'Hallo' gesagt, denn nur meinen eigenen Namen zu nennen fand ich auch irgendwie komisch. Inzwischen hatte ich mir diese Variante angewöhnt. Kevin fand das irgendwie ganz lustig. Er meinte, das würde sich richtig seriös anhören, so wie 'Dachdeckerbetrieb Huber und Söhne. Franz Huber am Apparat'.

Am anderen Ende meldete sich eine männliche Stimme. Mir war sofort klar, dass das nicht Kevins Vater war.

»Oh! Hallo! Kann ich bitte mit Kevin Winter sprechen?«

Der Anrufer schien etwa in unserem Alter zu sein, soweit man so etwas durch das Telefon überhaupt feststellen konnte.

»Klar, einen Moment bitte, er kommt gleich.«

»Okay, danke!«

Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass die Stimme sich etwas unsicher oder sogar besorgt anhörte. Ich konnte mich aber auch täuschen. Wahrscheinlich war ich nur überrascht, weil ich ja eigentlich Kevins Eltern am anderen Ende der Leitung erwartet hatte. Ich kam nicht mehr dazu, mir weiter darüber Gedanken zu machen, denn Kevin sauste bereits auf mich zu und riss mir den Hörer aus der Hand.

»Hallo«, rief er fröhlich ins Telefon.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann erstarb sein Lächeln.

»Oh ...! Hi!«, sagte er stattdessen überrascht.

Mit dem Hörer am Ohr setzte er sich langsam auf sein Bett. Eine Weile hörte er stumm dem Anrufer zu. Ich versuchte an seinem Gesichtsausdruck abzulesen, was der ihm wohl erzählte. Irgendwie sah Kevin ziemlich erschrocken aus. War vielleicht seinen Eltern etwas passiert?

»Okay ... ah ja!«, antwortete Kevin schließlich. »Danke, dass du Bescheid gesagt hast.«

Er wirkte ziemlich nervös und unsicher. Nach einem Moment sprach er weiter.

»Ach, eigentlich ganz gut.«

Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass ihn der Anrufer gefragt hatte, wie es ihm ging.

»Doch, ist gar nicht so übel hier ... ähm, du, ich muss jetzt Schluss machen ... äh ... weil hier gibt's gleich Abendessen ... Okay. Ciao!«, beendete Kevin schließlich abrupt das Gespräch.

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, ließ er sich seufzend aufs Bett fallen.

»Ist was passiert?« fragte ich besorgt.

Er schüttelte nur den Kopf.

»Dann ging's gar nicht um deine Eltern?«

»Doch, auch. Die sind gut angekommen.«

»Was ist dann los?«

»Nichts.«

»Hey, mach mir nichts vor! Irgendwas ist doch. Und was sollte das mit dem Abendessen? Es ist erst zehn Minuten vor sechs. Wir haben noch genügend Zeit.«

Kevin druckste eine Weile herum. Schließlich gab er mir doch eine Antwort.

»Mann, ich wollte halt nicht mit ihm reden.«

»Wer hat da überhaupt angerufen?«

Er drehte sich auf die Seite und starrte die Wand an.

»Musst du alles wissen?« grummelte er in sein Kopfkissen.

»Sorry!« erwiderte ich.

Wenn Kevin nicht reden wollte, war das seine Sache. Schon nach wenigen Augenblicken sah er dann aber doch wieder zu mir herüber.

»Also gut. Wenn du's unbedingt wissen willst. Das war Enrico.«

Kevins Stimme hörte sich ziemlich störrisch an.

»Ah ja«, antwortete ich knapp.

Dadurch wusste ich natürlich immer noch nicht, wer Enrico eigentlich war und was er gewollt hatte. Um von Kevin nicht noch einmal angefaucht zu werden, wollte ich aber auch nicht nachfragen. Schließlich redete Kevin dann aber von selbst weiter.

»Der wollte nur Bescheid sagen, dass seine Eltern und meine Eltern gut im Allgäu angekommen sind und dass die jetzt nicht anrufen können, weil das Wetter da unten so toll ist und sie deshalb schon die erste Wanderung machen. Dann hat er noch gesagt, dass sie erst später am Abend wieder zurückkommen und heute nicht mehr anrufen und dass ich mich ja morgen früh selbst bei ihnen melden kann, wenn ich will. Jetzt alles klar?«

»Ja.«

»Gut, dann komm jetzt mit zum Essen.«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Mein Magen knurrte schon eine ganze Weile. Trotzdem ging mir der Anruf von vorhin nicht aus dem Kopf. Enrico war also der Sohn der Heymanns. Das hätte mir Kevin ja auch gleich sagen können. Warum stellte er sich deswegen so an? Naja, vielleicht mochte er ihn nicht besonders. Das wäre zumindest eine Erklärung dafür, warum er ihn am Telefon so schnell abgefertigt hatte. Irgendwie wurde ich trotzdem den Eindruck nicht los, dass mehr hinter Kevins Verhalten steckte. Er war nicht nur überrascht gewesen, dass Enrico anstatt seiner Eltern am Telefon gewesen war, sondern richtig erschrocken. Oder hatte er im ersten Moment nur befürchtet, dass seine Eltern vielleicht einen Unfall gehabt haben könnten? So sehr ich auch darüber nachdachte, eine endgültige Erklärung konnte ich nicht finden. Ich würde also abwarten und darauf hoffen müssen, dass Kevin mir noch mehr erzählte.

Den Abend verbrachten wir dann wie schon so viele Abende zuvor mit Gesellschaftsspielen. Der Kontakt zur anderen Gruppe war inzwischen längst wieder abgebrochen. Nur Armin gesellte sich noch manchmal zu uns. Die ganze Zeit immer nur in weiblicher Gesellschaft zu verbringen, war wohl auch für ihn als Heteromann auf Dauer zu viel. An diesem Tag ließ er sich trotzdem nicht bei uns blicken. Naja, der Abend verging auch ohne ihn.

Als wir zu Bett gingen, versuchte ich noch einmal mit Kevin über Enricos Anruf zu reden, aber irgendwie brachte ich es nicht fertig, unser Gespräch in die richtige Richtung zu lenken. Vielleicht wollte er auch einfach nicht darüber reden und unterband schon deswegen alle diesbezüglichen Ansätze. Irgendwie kam mir sein Verhalten schon den ganzen Abend über etwas merkwürdig vor. Obwohl er sich bemühte, genau so fröhlich zu wirken wie in den letzten Tagen, bemerkte ich eine Veränderung. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Im Moment war es aber wohl sinnlos, mit ihm darüber reden zu wollen. Schließlich schaltete ich das Licht aus und versuchte einzuschlafen.

Mitten in der Nacht wurde ich wach. Zuerst dachte ich, dass es schon früh am Morgen sein musste und öffnete meine Augen einen spaltbreit, um einen Blick auf den Wecker zu werfen. Zu meiner Verwunderung stellte ich fest, dass es erst kurz nach zwei war. Was hatte mich um diese Zeit nur geweckt? Als ich meine Augen noch ein Stück weiter öffnete, bemerkte ich, dass der Vorhang zurückgezogen war. Kevin stand am Fenster und sah nach draußen. Sofort fühlte ich mich in die zweite Nacht hier in der Klinik zurückversetzt, als Kevin an genau dieser Stelle um dieselbe Uhrzeit gestanden, leise geweint und vor Kälte gezittert hatte. Diesmal war aber etwas anders. Damals hatte der Vollmond das Zimmer in ein helles Licht getaucht. Heute war vom Mond nichts zu sehen, dementsprechend dunkel war es im Raum. Und da war noch ein Unterschied, der mir sofort auffiel. Kevin hatte sich diesmal selbst in seine Bettdecke gehüllt, um nicht zu frieren.

Er hatte wohl inzwischen bemerkt, dass ich wach war, denn er drehte sich zu mir um.

»Schlaf weiter, David. Ist alles okay«, sagte er leise, fast sanft.

»Wirklich?« fragte ich schlaftrunken.

»Ja, mach dir keine Sorgen. Ich denk nur über was nach.«

Erleichtert rollte ich mich zurück auf die andere Seite und versuchte wieder einzuschlafen, doch irgendwie wusste ich sofort, dass mir das jetzt nicht mehr gelingen würde. Ich spürte nicht mehr den geringsten Anflug von Schläfrigkeit. Stattdessen war ich hellwach. Trotzdem blieb ich eine Weile mit geschlossenen Augen liegen und hoffte darauf, doch noch eindösen zu können. Unterdessen hörte ich, wie Kevin sich leise wieder auf sein Bett zurückzog und sich in seine Decke kuschelte. Als ich nach ein paar Minuten immer noch kein bisschen Müdigkeit verspürte, gab ich meine Einschlafversuche auf und sah in Kevins Ecke hinüber. Ich war mir sicher, dass er auch noch wach lag. Meine Annahme bestätigte sich. Trotz der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass Kevin sich noch nicht einmal hingelegt hatte. Stattdessen saß er mit dem Rücken zur Wand aufrecht auf der Matratze, eingewickelt in sein Federbett.

»Kevin?« flüsterte ich leise zu ihm hinüber.

»Ja?«

»Ich kann jetzt doch nicht mehr einschlafen.«

»Sorry, ich wollte dich gerade wirklich nicht wecken.«

»Macht doch nichts.«

Eine Weile kehrte wieder Stille ein. Nur das leise Ticken des Weckers war zu hören.

»Worüber hast du vorhin nachgedacht?« fragte ich schließlich.

»Wie es weitergehen soll, wenn ich hier wieder raus bin?«

»Hast du Angst davor?«

Ich sah, wie er nickte.

»Willst du drüber reden?« fragte ich ihn.

»Morgen vielleicht.«

»Hey, ich kann jetzt sowieso nicht schlafen.«

Eine Weile zögerte er.

»Okay. Kommst du zu mir rüber?«

»Gerne, wenn du willst.«

Ich nahm meine Decke und lief zu seinem Bett hinüber. Er rutschte ein Stück zur Seite, so dass ich auf der Matratze auch noch gut Platz hatte. Nachdem ich mich neben ihn gesetzt und mich in meine Bettdecke eingepackt hatte, saßen wir erst einmal eine Weile schweigend nebeneinander. Dann fing er an zu reden.

»Wusstest du, dass ich seit meinem Selbstmordversuch mit niemandem aus meiner alten Clique mehr Kontakt hatte?«

Ich schüttelte den Kopf. Über seinen Freundeskreis hatte er mir bisher kaum etwas erzählt.

»Die haben sich doch aber sicher mal nach dir erkundigt, oder?«

»Klar haben die bei meinen Eltern gefragt, wie's mir geht. Zumindest ein paar von ihnen, am Anfang. Nachdem sie mitbekommen haben, dass ich mit niemandem reden und niemanden sehen will, haben sie's dann wahrscheinlich aufgegeben.«

»Du hast dich total abgekapselt, oder?«

»Mann, ich war auf einmal in der Psychiatrie, in der geschlossenen Abteilung, nach 'nem Selbstmordversuch. Ich wusste überhaupt nicht, was mit mir passiert. Ich hab mich einfach nur geschämt. Kannst du das verstehen?«

Ich nickte.

»Klar kann ich das verstehen.«

Eine Weile zögerte er. Ich spürte, wie er verzweifelt nach Worten suchte, mit denen er mir klarmachen konnte, was ihn bewegte. Irgendwann schien er sich die nächsten Sätze zurechtgelegt zu haben.

»Weißt du, nach Marcos Tod, als ich dann endlich wieder in die Schule gegangen bin ...«

Er machte eine Pause und seufzte tief. Ich ließ ihm Zeit, bis er weiterreden konnte.

»Irgendwie hab ich's da geschafft, allen meinen Freunden vorzuspielen, dass es mir wieder gut geht und dass alles so ist wie vorher.«

»Warum hast du das gemacht?«

»Weiß ich auch nicht so genau. Wahrscheinlich, weil ich selbst wollte, dass alles wieder so wird wie vor Marcos Unfall. Ich hatte vorher immer so verdammt viel Spaß mit der Clique. Ich wollte, dass das wieder so ist. Aber das hat nicht funktioniert, mir ging's von Tag zu Tag immer nur beschissener.«

Wieder machte er eine längere Pause. Sein Atem ging unregelmäßig. Ich spürte, wie sehr ihm die Erinnerungen immer noch zusetzten.

»Nach ein paar Tagen hab ich dann wohl geglaubt, dass die anderen mir tatsächlich abnehmen, dass ich okay bin. Keine Ahnung, ob das wirklich so war. Aber wie hätte ich denen dann noch zeigen sollen, wie's mir wirklich geht? Außerdem hab ich ja gemerkt, dass die auch so schon alle nicht wissen, wie sie mit mir umgehen sollen. Irgendwie hab ich mich gefühlt, als ob ich überhaupt nicht mehr dazugehöre.«

Er griff nach dem Glas, das neben seinem Bett stand und trank ein paar Schlucke.

»Und jetzt hast du Angst davor, wie das sein wird, wenn du die alle wieder triffst?« fragte ich ihn, nachdem er das Glas wieder zurückgestellt hatte.

»Ja, ich frag mich, was die jetzt wohl über mich denken. Du weißt schon, wegen meinem Selbstmordversuch und der Psychiatrie und so. Und wie sie sich verhalten werden, wenn ich wieder in die Schule komme. Da werd ich sie ja auf jeden Fall sehen, wenn ich erstmal wieder dort hingehe. Mann, im Moment kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, da wieder hinzugehen.«

Er hielt einen Moment inne und schüttelte den Kopf, so als ob er die Gedanken daran vertreiben wollte.

»Weißt du, wie komisch das schon war, wieder mit Enrico zu sprechen?« fragte er mich dann.

»Wart ... äh ... seid ihr gut befreundet?«

Kevin nickte zuerst nur.

»Mann, wir waren echt mal die besten Freunde«, stieß er dann nach einer Weile hervor. »Und jetzt? Ich hatte keine Ahnung, was ich am Telefon zu ihm sagen soll, wie ich überhaupt mit ihm reden soll. Ich war total nervös. Am liebsten hätte ich einfach wieder aufgelegt.«

»Und er? Was hattest du für ein Gefühl, wie es ihm dabei ging, mit dir zu reden?«

Kevin zuckte mit den Schultern.

»Weiß nicht genau. Ich glaub, es ist ihm ziemlich schwer gefallen, hier anzurufen. Was glaubst du denn, warum er sich erst kurz vor sechs gemeldet hat?«

»Hey, das ist doch ganz normal, dass er sich auch unsicher fühlt. Das heißt doch aber nicht, dass ihm eure Freundschaft nichts mehr bedeutet oder dass er dich in Zukunft irgendwie komisch behandelt. Außerdem hat deine Mutter ja auch gemeint, dass er sich freuen würde, wenn du dich mal bei ihm meldest. Das hat die bestimmt nicht nur so gesagt. Und wenn du das Gespräch nicht so schnell abgewürgt hättest ...«

»Ich weiß«, unterbrach er mich. »Ich hab ja vorhin auch schon überlegt, ob ich ihn in den nächsten Tagen noch mal selbst anrufe.«

»Na also.«

»Hey, ich weiß noch nicht, ob ich's auch wirklich mache.«

»Wäre zumindest mal ein erster Schritt, oder?«

»Du meinst, ein erster Schritt zurück ins richtige Leben.«

»Ja, so ungefähr.«

Ich sah, wie er im Dunkeln grinste. Noch etwas verhalten, aber immerhin. Dann spürte ich seine Hand auf meiner Schulter.

»Leg dich wieder schlafen, David«, hörte ich ihn sagen. »Ich merk doch, dass du kaum noch die Augen offen halten kannst. Wir reden morgen weiter, okay?«

Naja, ganz so schlimm war es nicht, aber irgendwann in den letzten zwei oder drei Minuten war tatsächlich ganz plötzlich wieder die Müdigkeit zurückgekehrt. Ich folgte seiner Anweisung ohne Widerworte und kroch hinüber in mein Bett. Binnen kürzester Zeit war ich eingeschlafen.

Kevin entschloss sich dann tatsächlich schon am nächsten Nachmittag bei Enrico anzurufen. Ich ließ ihn dazu alleine und setzte mich währenddessen zusammen mit dem Rest unserer Gruppe in die Cafeteria. Den anderen erzählte ich noch nichts von Kevins Vorhaben. Schließlich war ich mir nicht sicher, ob er sich auch wirklich trauen würde, es in die Tat umzusetzen. Es dauerte ganz schön lange, bis Kevin endlich herunterkam und sich zu uns gesellte. Entweder hatte er zuerst lange mit dem Anruf gezögert oder er hatte weit über eine halbe Stunde mit Enrico geplaudert. Dass er tatsächlich mit ihm telefoniert hatte, sah ich ihm aber sofort an. Kevin wirkte richtig aufgekratzt.

»Kommst du schnell mal mit da rüber?« fragte er mich leise und deutete dabei auf einen freien Tisch auf der anderen Seite des Raumes. »Ich muss was mit dir bereden.«

»Was ist?« fragte ich ihn, als wir uns dort gesetzt hatten.

»Ich will übers Wochenende nach Hause fahren und wollte dich fragen, ob du mitkommst?«

»Was willst du?« stieß ich überrascht aus. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet.

»Ja, wir könnten am Samstag ganz früh losfahren und sonntags wieder zurückkommen. Was hältst du davon?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir war immer noch nicht klar, was er eigentlich vorhatte.

»Hey, das ist ja schon übermorgen«, erwiderte ich. »Ist das Gespräch mit Enrico so gut gelaufen, dass du's jetzt nicht mehr erwarten kannst, deine Freunde wieder zu sehen, oder was willst du dort?«

»Naja, ganz so ist es nicht. Ich hab schon ein mulmiges Gefühl dabei. Aber so was in der Art hab ich tatsächlich vor. Weißt du, jetzt wo meine Eltern im Allgäu sind, könnte ich mich wirklich mit meiner alten Clique bei uns zuhause treffen. Das ist doch 'ne gute Gelegenheit, oder? Enrico will morgen in der Schule jedenfalls allen Bescheid sagen. Keine Ahnung, ob die dann auch wirklich alle kommen.«

Er zuckte mit den Schultern. Mit einem fast spitzbübischen Grinsen fügte er hinzu: »Enrico kommt aber auf jeden Fall.«

Ich fragte mich immer noch, was auf einmal in ihn gefahren war.

»Du hast dich also schon fest dazu entschlossen zu fahren.«

»Ja. Also was ist, kommst du mit?«

»Ich weiß nicht, ich kenn deine Freunde doch nicht. Was soll ich denn da?«

»Ach komm, du musst einfach mitfahren. Wenn du dabei bist, fällt mir das Ganze einfach viel leichter.«

»Na gut«, willigte ich notgedrungen ein.

Worauf hatte ich mich da nur eingelassen? Schon jetzt kam ich mir wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen vor. Außerdem befürchtete ich, dass die Aktion für Kevin vielleicht doch enttäuschend verlaufen könnte. Möglicherweise stellte er sich das ja alles im Moment viel einfacher vor, als es tatsächlich war. Diese beinahe übermütige Stimmung, in der er sich im Moment befand, war bis Samstag sicher längst wieder verflogen. Und dann war es zu spät, um die Sache noch abzublasen. Was würde passieren, wenn seine Freunde vor verschlossener Tür standen und Kevin nicht auftauchte? Dann würde ein späteres Wiedersehen mit ihnen wohl noch viel schwieriger für ihn werden. Irgendwie war mir alles andere als wohl bei der Sache. Die anderthalb Tage, die bis zu unserer Abfahrt noch blieben, verbrachte ich jedenfalls in gespannter Erwartung auf das, was uns beide bei Kevin zuhause erwartete, falls wir denn tatsächlich fahren würden und sich Kevin nicht noch mal alles anders überlegte.

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