Winterregen (Weirdos) - Eine Story von Robin

 

Kapitel 21 - Morgendämmerung

»Hey, beeil dich mal!« forderte Kevin mich ungeduldig auf, als er mich immer noch im T-Shirt vor dem geöffneten Kleiderschrank herumstehen sah. An den Tagen vorher war es nicht mehr besonders kalt gewesen und der Wetterbericht hatte leichten Regen angekündigt. Daher war ich unschlüssig, ob ich wieder meine warme Daunenjacke und darunter nur ein dünnes Langarmshirt ohne Kapuze oder doch lieber einen etwas dickeren Kapuzenpulli und dazu meine andere Jacke, die nur leicht wattiert war, anziehen sollte. Schließlich entschied ich mich für die zweite Variante und griff nach einem weißen Hoodie. Ich schlüpfte hinein und nahm danach die Jacke vom Bügel. Diese war kurz und schmal geschnitten, im aktuellen Retro-Look aus rotem und dunkelblauem Glanznylon. Wie Kevin bereits einmal bei der Inspektion meines Kleiderschranks festgestellt hatte, war auch bei dieser Jacke die Kapuze im Kragen untergebracht, im Gegensatz zu meiner Daunenjacke aber nicht hinter einem Klettverschluss, sondern in einem Reißverschlussfach. Somit war nun auch ich zum Aufbruch bereit, wenn auch noch ziemlich lustlos.

An diesem Samstagmorgen hatte uns der Wecker bereits um halb sieben aus dem Bett geklingelt. So früh aufzustehen war ich inzwischen gar nicht mehr gewohnt. Daher fühlte ich mich noch nicht wirklich wach. Kevin hingegen war bereits richtig hibbelig. Er stand mittlerweile schon vor der geöffneten Zimmertür und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Es wunderte mich aber nicht wirklich, dass ihn die Tatsache nervös machte, heute nach vielen Wochen wieder nach Hause zurückzukehren und seine Freunde wiederzusehen.

Obwohl die Entfernung zu Kevins Heimatstadt nur knapp 150 Kilometer betrug und wir bereits am nächsten Abend zurück sein würden, hatte ich das Gefühl, zu einer großen Reise aufzubrechen. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich nun beinahe vier Wochen nicht über den näheren Umkreis dieser Klinik hinausgekommen war. Bepackt mit einem kleinen Rucksack, der Wäsche zum Wechseln und ein paar weitere nützliche Utensilien enthielt, trat ich schließlich zu Kevin hinaus in den Flur.

Ein mulmiges Gefühl stieg in mir hoch, als ich die Tür hinter uns abschloss. Das Gefühl verstärkte sich noch, als wir mit leisen Schritten durch den Gang eilten. Um diese Zeit war es in der Klinik noch totenstill und die Notbeleuchtung erzeugte eine unheimliche Atmosphäre. Um die Stille nicht zu stören, traute ich mich kaum, auch nur ein einziges Wort mit Kevin zu wechseln, nicht einmal im Flüsterton. Da auch er sich nicht bemüßigt fühlte, irgendetwas zu sagen, liefen wir schweigend in Richtung Fahrstuhl. Am Übergang zwischen den Gebäudeflügeln sah ich kurz durch die Fenster nach draußen. Die Morgendämmerung setzte langsam ein, noch schien aber die Dunkelheit die Oberhand zu behalten.

Als wir schließlich nebeneinander vor dem Aufzug standen und Kevin auf die Taste mit dem nach unten gerichteten Dreieck drückte, schien die merkwürdige Stimmung, die mich seit dem Verlassen unseres Zimmers befallen hatte, ihren Höhepunkt zu erreichen. Das Surren des Fahrstuhlmotors, das leise Pling, mit dem die Kabine in unserem Stockwerk zum Stillstand kam, und das Rattern der sich öffnenden Türen, Geräusche, die ich sonst kaum wahrnahm, schienen diesmal viel zu laut zu sein. Ich fragte mich, ob das nur mir so vorkam, oder ob Kevin genauso empfand. Jedenfalls sprachen wir weiterhin kein einziges Wort, während wir hinunter in den Keller fuhren. Erst als wir draußen im Freien vor der Klinik standen, schien der Bann ein wenig zu brechen.

»Wie viel Zeit haben wir noch, bis der Bus fährt?« hörte ich Kevin sagen, als wir uns in Bewegung setzten.

Ich schob den Ärmel meiner Jacke zurück und sah auf meine Armbanduhr.

»Genügend«, antwortete ich nur.

Immer noch hatte ich das Gefühl, dass jedes unserer Worte bis hinauf hinter die Fenster der Klinik zu hören war und ebenso wie das Knirschen unserer Schuhsohlen auf dem Kiesweg die Stille unangemessen störte. Zögerlich ließ ich meinen Blick über die Umgebung wandern. Dichter Nebel verhüllte die Landschaft um uns herum, so dass die Sicht auf zwanzig oder dreißig Meter beschränkt war. Die Wiesen waren über und über mit Reif bedeckt. Als das Klinikgebäude hinter uns im Nebel verschwunden war und plötzlich einige kahle Bäume schemenhaft vor uns auftauchten, wäre ich vor Schreck beinahe zusammengezuckt. Hastig zog ich mir die Kapuze meines Sweatshirts über den Kopf. Nicht wegen der Kälte, sondern um mich vor dieser unheimlichen Atmosphäre abzuschirmen. Den Blick starr auf den Boden gerichtet, um nicht über irgendetwas zu stolpern, die Sicht nach rechts und links durch die Kapuze eingeschränkt, trottete ich still neben Kevin her. Als ich nach einer Weile den Blick in seine Richtung wandte, bemerkte ich, dass auch er die Kapuze seiner Jacke über den Kopf gezogen hatte. Ich fragte mich, ob ihm diese genau wie mir ein Gefühl von Schutz und Sicherheit vermittelte, oder ob ihm einfach nur kalt war. Mit gesenktem Kopf setzte er einen Schritt vor den anderen, die Hände tief in den Jackentaschen. Sein Atem kondensierte zu kleinen Wölkchen. Er bemerkte überhaupt nicht, dass ich ihn ansah.

Ich fragte mich, worüber er gerade nachdachte und wie er sich wohl fühlte. Am vergangenen Nachmittag hatte er noch einmal lange mit Enrico telefoniert. Er hatte zwar kaum darüber geredet, was er alles mit ihm besprochen hatte, aber ich hatte ihm danach deutlich anmerken können, dass er sich auf das Wiedersehen richtig freute. Inzwischen schien diese Vorfreude aber in so etwas wie Unsicherheit oder Anspannung umgeschlagen zu sein. Jedenfalls schien er es im Moment vorzuziehen, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Endlich tauchten die ersten Häuser von Bad Neuheim vor uns auf. Ich hatte das Gefühl, dass wir für den Weg an diesem Morgen viel länger gebraucht hatten also sonst. Inzwischen war es etwas heller geworden und auch das Leben schien langsam Einzug in die Umgebung zu halten. In einer kleinen Bäckerei brannten die Neonröhren an der Decke. Durch das Schaufenster konnte man deutlich die Verkäuferin erkennen, die einer frühen Kundin gerade eine Tüte mit Gebäck über die Theke reichte. Nur ein paar Momente später tauchte ein Radfahrer auf, der in Schal und Mütze gehüllt sein Rad vor der Ladentüre abstellte, um dann ebenfalls den Laden zu betreten. Die Türglocke war bis zu uns herüber auf die andere Straßenseite zu hören..

Schließlich erreichten wir den Ortsplatz und setzten uns nebeneinander auf die Bank des Buswartehäuschens. Die Konstruktion aus Plexiglas und Metall sah so aus, als wäre sie erst vor ein paar Monaten hier aufgestellt worden. Trotzdem waren die Scheiben bereits mit einigen Schmierereien und tiefen Kratzern verunziert. Sicher warteten hier unter der Woche Schüler aus Bad Neuheim auf den Bus, der sie in die nächstgrößere Stadt brachte, wo es neben dem Bahnhof, der an diesem Tag unser nächstes Ziel sein würde, wahrscheinlich auch ein Gymnasium oder eine Realschule gab. Heute am Samstag saßen wir ganz alleine hier. Auf der Straße vor uns war nicht besonders viel Verkehr und auf dem Ortsplatz ließen sich ebenfalls nur vereinzelt Passanten blicken.

Unser beider Schweigen setzte sich fort, während wir auf den Bus warteten. Jedes Mal, wenn ich mich zu Kevin umdrehte, versperrte mir seine Kapuze den Blick in sein Gesicht. Fast hatte ich den Eindruck, als wollte er sich unter ihr vor mir verstecken. Entweder sah ich nur seine Nasenspitze oder er hatte den Kopf ganz von mir abgewandt. Ich fragte mich, ob er da nur nach dem Bus Ausschau hielt oder ob er meinem Blick ganz bewusst auswich. Es war schwer zu deuten, was ihn im vorging. Vielleicht hatte er doch mehr Angst vor dem, was daheim auf ihn zukommen würde, als er mir oder sogar sich selbst eingestehen wollte. Ich konnte nur hoffen, dass das Tageslicht seine Laune aufhellen würde.

 

Kapitel 22 - Coming Home

»Wow!«, entfuhr es mir, als wir endlich am Tor vor dem Grundstück der Familie Winter ankamen. Kevin hatte mir unterwegs schon erzählt, dass ihr Haus von einem bekannten Architekten entworfen worden war - wiederum ein Freund seiner Eltern, der damit irgendeinen Architekturpreis gewonnen hatte. Trotzdem musste ich im ersten Moment spontan meine Bewunderung äußern. Mir war aber gleichzeitig klar, dass dieses extravagante Heim Kevins Familie nicht vor schweren Schicksalsschlägen geschützt hatte. Deshalb vermied ich es, in einen Begeisterungstaumel zu verfallen, sondern unterließ weitere Bemerkungen. Stattdessen wartete ich schweigend, bis Kevin seinen Schlüssel aus der Jackentasche gekramt hatte und mit dessen Hilfe das elektrische Tor zur Seite schwingen ließ, das die Einfahrt ins Grundstück verwehrte.

Unterwegs war Kevins Stimmung tatsächlich besser geworden. Auf dem etwa halbstündigen Fußweg vom Bahnhof bis hierher hatte er sogar sichtlich Freude daran gehabt, mir seine Heimatstadt zu zeigen. Die Reise zuvor, in langsamen Nahverkehrszügen und mit zwei endlos erscheinenden Umsteigeaufenthalten, war zwar nervig gewesen, inzwischen aber längst vergessen. Das Einzige, was mir den Tag jetzt noch vermieste, war das Wetter. Der Himmel war zwar grau und wolkenverhangen, vom Regen waren wir auf unserer Reise aber sehr zu meinem Leidwesen verschont geblieben. Unsere Kapuzen hatten wir beide daher seit dem Einstieg in den Bus am frühen Morgen nicht mehr gebraucht.

Auf dem Weg über den gepflasterten Weg zur Haustür ließ ich meinen Blick weiter in stiller Bewunderung über das Haus und das Grundstück schweifen.

»Los, komm schon rein!« musste mich Kevin daher extra auffordern, nachdem er die Haustür aufgesperrt hatte. »Wenn du willst, kannst du dir das später noch alles in Ruhe anschauen. Ich hab jetzt Hunger. In der Kühltruhe gibt’s bestimmt Tiefkühlpizza. Ist das okay für dich?«

»Klar«, willigte ich sofort ein. Auch mir knurrte inzwischen der Magen. Die Mittagszeit war längst vorbei und wir hatten den ganzen Tag noch nichts gegessen.

Von innen wirkte das Haus nicht ganz so spektakulär. Es war modern eingerichtet, unterschied sich aber diesbezüglich nicht sehr von anderen Häusern. Kevin ließ mir nicht viel Zeit, um mich umzusehen und durch die offenen Türen in die anderen Räume zu blicken, sondern stürmte sofort voraus in die Küche. Es schien, dass er nach der langen Abwesenheit überhaupt keine langsame Wiedereingewöhnung nötig hatte. Ich blieb neben der Küchentür stehen und sah ihm dabei zu, wie er die Kühltruhe durchwühlte und schließlich drei quadratische Packungen hochhielt.

»Pizza Salami, Pizza Mozzarella oder Pizza Funghi?«

»Mag ich eigentlich alle«, erwiderte ich.

»Dann machen wir die mit Salami und die mit Mozzarella. Auf Pilze bin ich grad nicht scharf. Wenn du willst, kannst du dann von jeder die Hälfte haben. Okay?«

»Perfekt!«, stimmte ich zu. Mir lief bei dem Gedanken an die fruchtige Tomatensoße und den zerlaufenen Käse schon das Wasser im Mund zusammen.

Kevin schaltete den Backofen ein und bereitete die beiden Pizzen vor. Als er sie in den Ofen geschoben hatte und keine Anstalten machte, die Küche wieder zu verlassen, fragte ich ihn: »Willst du dich nicht mal im Haus umsehen? Du warst schließlich schon lange nicht mehr hier.«

»Später« war die einzige Antwort, die ich erhielt.

Da ich mich nicht traute, allein das fremde Haus zu erkunden, bleib ich in der Küche, setzte mich an den Tisch und ließ mir ein Glas Cola einschenken.

Nachdem wir unsere Mahlzeit verspeist und gemeinsam das Geschirr abgespült hatten, bemerkte ich beim Blick durch eines der Küchenfenster, dass draußen nun doch noch der Regen eingesetzt hatte. Leise grummelte ich vor mich hin: »Na toll! Das hätte ruhig schon vorhin regnen können, als wir auf dem Weg hierher waren.«

Kevin hatte meine Bemerkung gehört und reagierte sofort: »Hey, im Gegensatz zu dir fand ich das trockene Wetter vorhin schöner.«

»Wir könnten ja jetzt noch mal rausgehen und uns weiter die Gegend ansehen«, schlug ich mit einem frechen Grinsen vor.

Kevin grinste kurz zurück, wurde aber gleich darauf ziemlich ernst.

»Ich würde jetzt gerne mal rauf in mein Zimmer gehen«, sagte er zögerlich. »Ich meine, dass ich erst mal eine Weile ganz alleine da oben sein möchte. Verstehst du?«

Natürlich verstand ich das. Ich hatte mich ja sowieso schon gewundert, warum Kevin mich so schnell in die Küche geschleppt hatte, ohne die anderen Räume auch nur zu beachten. War das vielleicht eine Art Flucht gewesen, um die tatsächliche Rückkehr in dieses Haus noch eine Weile hinauszuzögern?

»Klar, ist absolut okay.«

»Wie wär’s, wenn du dich alleine draußen umsiehst? Setz deine Kapuze auf und lass dich ’ne Weile nass regnen.« Seine ernste Miene war schon wieder einem Schmunzeln gewichen.

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und willigte sofort ein.

»Hier, nimm den Schlüssel mit und komm einfach rein, wenn du genug hast oder total durchgeweicht bist.«

»So doll regnet’s jetzt auch wieder nicht«, erwiderte ich und verdrehte dabei die Augen.

Während Kevin die Treppe in den ersten Stock hinaufging, schlüpfte ich wieder in meine Jacke und verließ das Haus. Noch bevor ich hinaus in den Regen trat, hatte ich auch schon die Sweatshirtkapuze über den Kopf gestreift. Am liebsten hätte ich jetzt auch noch den Reißverschluss hinten am Kragen meiner Jacke geöffnet, die dünne Nylonkapuze herausgeholt, über die Sweatkapuze gezogen und anschließend beide Kapuzen fest zugebunden. Ich fand aber sofort mehrere Gründe, dies nicht zu tun. Zum einen war der Regen nicht wirklich stark. Außerdem wäre ich mir so ausstaffiert trotz der damit verbundenen Erregung ziemlich blöd vorgekommen. In Kevins Wohngegend war es zwar ziemlich ruhig und es kannte mich hier auch niemand. Trotzdem wäre es mir peinlich gewesen, in solch einem Outfit jemandem zu begegnen. Es war mir noch nicht mal Recht, wenn Kevin mich aus einem der Fenster so sehen würde. Schließlich beließ ich es dabei, die Kordel der Sweatshirtkapuze etwas enger zu ziehen, so dass auch meine Stirn vor den Regentropfen geschützt war, und begann meine Erkundungstour damit, dass ich mir Kevins Haus von der Einfahrt aus nochmals genau ansah.

Das zweistöckige Haus setzte sich aus mehreren Quadern zusammen. Dabei bildete ein großer Quader die Grundform. Zwei längliche Quader mit Glasfronten an den Enden, die ein Stück über die Mauern unter ihnen ragten, waren links außen und in der Mitte in die Grundform eingelassen und schienen quasi mit dem Obergeschoss des Gebäudes verschmolzen zu sein. Ein ähnlicher Quader ragte auf der rechten Seite im Erdgeschoss hervor. Am Rest des Gebäudes zierten große Fenster die weiße Fassade. Bei der ein paar Meter entfernt stehenden Doppelgarage setzte sich das Verwirrspiel aus Ecken und Kanten fort, wobei man hier jedoch auf große Glasflächen verzichtet hatte.

Ich machte mich auf den Weg um das Haus herum. Da das Gebäude an einem Hang erbaut worden war, führten mich zunächst ein paar Treppenstufen nach unten. Dann erstreckte sich vor mir eine große Rasenfläche, die an beiden Seiten von Büschen und Bäumen flankiert wurde. Nach vorne hin hatte man einen guten Ausblick über die ganze Stadt. Als ich mich zum Haus umwandte, entdeckte ich durch die Glasfront im Untergeschoss einen Swimmingpool. Von dem hatte mir Kevin schon erzählt und mich am Morgen extra noch einmal daran erinnert, eine Badehose mitzubringen. Als ich alles ausgiebig betrachtet hatte, machte ich mich wieder auf den Rückweg zur anderen Hausseite. Der Regen war mittlerweile schon wieder schwächer geworden. Als ich über den Baumwollstoff meiner Kapuze strich, fühlte sich dieser zwar feucht an, er war aber noch lange nicht durchgeweicht. Ich entschied mich daher, noch ein wenig länger im Freien zu bleiben und verließ das Grundstück durch ein schmales Seitentor, das ich problemlos mit einem von Kevins Schlüsseln öffnen konnte. Die Straße vor dem Grundstück wirkte wie ausgestorben. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Ich lief ein Stück den Gehsteig entlang und begutachtete die anderen Grundstücke. Die Wohngegend war zweifellos den wohlhabenderen Einwohnern der Stadt vorbehalten. Trotzdem konnte es keines der übrigen Häuser architektonisch mit dem der Winters aufnehmen.

Als ich wieder am großen Tor vor der Einfahrt ankam, steckte ich den mit ‚Tor’ beschrifteten Schlüssel in das in eine Säule eingelassene Schloss und ließ die breite metallene Pforte aufschwingen, genau wie Kevin dies vorhin getan hatte. Ich war mir nicht sicher, ob es nach einer Weile von alleine wieder zugehen würde, deswegen blieb ich wartend auf dem Grundstück stehen. Nichts passierte. Ich lief zurück zur Säule, um es nochmals mit dem Schlüssel zu versuchen. Der Anblick eines Radfahrers ließ mich innehalten. In all der Zeit, die ich hier draußen verbracht hatte, war dies der erste Mensch, der mir begegnete. Da ich erkennen konnte, dass die Gestalt als Schutz vor dem immer noch leicht herabplätschernden Regen eine Kapuze aufgesetzt hatte, wartete ich, bis sie näher kam. Der Radler war eindeutig männlich. Als er noch etwa 50 Meter entfernt war, erkannte ich im Schatten unter der Kapuze ein noch relativ junges Gesicht. Er musste ungefähr in meinem Alter sein. Auch wenn die Jacke, die er da anhatte, nicht unbedingt meinem Geschmack entsprach und außerdem eine feste Kapuze aufwies, die man aufsetzen konnte, ohne damit uncool zu wirken, konnte ich nicht umhin, den Anblick in meinem Gehirn abzuspeichern. Um ihm nicht das Gefühl zu geben, von mir angestarrt zu werden, wandte ich mich rechtzeitig bevor er an mir vorbeifuhr wieder der Säule zu. Entgegen meinen Erwartungen fuhr der Junge aber nicht auf der Straße weiter, sondern bog dicht hinter meinem Rücken durch das noch immer geöffnete Tor in die Einfahrt ein. Er trat in dem Moment kräftig auf die Bremse, als das Hinterrad die Grundstücksgrenze überrollt hatte und blieb knapp zwei Meter vor mir stehen.

»Hi!«, rief er mir zu. »Man kann das Tor auch vom Haus aus schließen.«

»Oh, das wusste ich nicht«, erwiderte ich lahm, zu erstaunt und überrumpelt, um seine Begrüßung zu erwidern.

»Du bist sicher David, oder?«

»Ja, der bin ich.« Jetzt war ich noch verwirrter. Woher kannte der Typ meinen Namen? Ich sah ihn mir genauer an. Er wirkte eher blass und hatte Sommersprossen im Gesicht, wenn auch nicht übermäßig viele. Unter der Kapuze lugten ein paar rote Locken hervor. Insgesamt war er nicht unattraktiv. Nur die schwarze Winterjacke aus Baumwollstoff mit der angeschnittenen Kapuze fand ich eher langweilig. Trotzdem musste ich mir eingestehen, dass der Anblick mir gefiel. Wie gut, dass ich selbst darauf verzichtet hatte, mich in zwei Kapuzen einzupacken. Vor ihm in solch einem Outfit dazustehen, wäre mir unendlich peinlich gewesen.

Mittlerweile war er von seinem Mountainbike abgestiegen und streckte mir seine rechte Hand entgegen, während er mit der linken weiter sein Rad festhielt.

»Hallo«, begrüßte er mich nochmals. »Ich bin Enrico Heymann. Kevin hat dir sicher schon was über mich erzählt.«

Ich schüttelte seine Hand und sagte ebenfalls Hallo. Ich erinnerte mich, dass ich in der vergangenen Woche seinen Anruf entgegen genommen hatte und fragte: »Dann warst du das also vor ein paar Tagen am Telefon?« »Wo ist Kevin denn?«, wollte er sofort wissen, nachdem er bejahend genickt hatte.

»Der wollte rauf in sein Zimmer, eine Weile für sich allein sein. Sich hier wieder eingewöhnen oder so. Ich bin alleine noch mal raus, um mal ein bisschen die Gegend zu erkunden und mir das Haus noch mal von außen anzusehen.«

»Sieht schon stark aus, oder?«

»Ja«, musste ich zugeben. »In so ’nem Haus wohnt nicht jeder.«

»Wolltest du gerade wieder reingehen?«

»Ja. Ich hab von Kevin den Schlüssel«, erwiderte ich und hielt den Schlüsselbund hoch.

»Ich stell noch schnell mein Fahrrad da unter.« Er deutete auf eine überdachte Fläche neben der Garage.

Ich wartete, bis er wieder zurück war und ging dann neben ihm zurück zum Haus. Als er sich im Eingangsbereich die Kapuze vom Kopf schob, kam ein roter Lockenkopf zum Vorschein. Ich erinnerte mich, dass ich ihn mir nach unserem kurzen Telefonat wegen seines Namens unwillkürlich als schwarzhaarigen, braungebrannten Südländer vorgestellt hatte. Vielleicht war ich deswegen nicht von selbst auf die Idee gekommen, dass es sich bei dem Jungen, der da auf das Grundstück der Winters eingebogen war, um Kevins Kumpel Enrico handelte.

Ich schloss die Tür auf und wir traten ein. Enrico zeigte mir sogleich den Knopf, mit dem man das Tor schließen konnte. Während ich in der geöffneten Haustür stehen blieb und zusah, wie es langsam zuschwang, hatte Enrico schon seine Jacke ausgezogen. Ich tat es ihm gleich und streifte auch endlich die Kapuze vom Kopf.

»Dann lass uns mal nach Kevin sehen«, schlug ich vor und rief laut dessen Namen. Als auch nach einigen Augenblicken keine Antwort zu hören war, rief ich noch einmal nach ihm.

»Wir schauen einfach mal nach oben«, ergriff Enrico schließlich die Initiative.

Zögerlich stieg ich hinter ihm die Treppe hinauf. Während er sich hier anscheinend gut auskannte, vielleicht sogar heimisch fühlte, kam ich mir wie ein Eindringling vor.

»Kevin, wo steckst du?«, rief Enrico leise, als er die oberste Stufe erreicht hatte. Er blieb einen Moment stehen und sah sich um.

»Die Tür von Marcos Zimmer ist offen«, flüsterte er mir erschrocken zu. »Du weißt ja sicher über Marcos Unfall Bescheid, oder?«

Ich nickte kurz und wir gingen ein paar Schritte weiter.

»Kevin, bist du da drin?«, rief er leise in Richtung der offenen Zimmertür.

»Ja, ich bin hier«, kam es leise zurück.

Ich war erleichtert, dass Kevin endlich antwortete. Ich hatte schon begonnen, mir Sorgen zu machen. Inzwischen war Enrico direkt vor die Öffnung getreten und blickte ins Zimmer. Ich trat ängstlich schräg hinter ihn und spähte über seine Schulter hinweg ebenfalls in den Raum. Kevin saß von der Tür abgewandt in der Mitte des Zimmers auf dem Boden, sah aber über die Schulter zu uns her. Er sah richtig traurig aus.

»Eigentlich wollte ich gar nicht hier reingehen«, sagte er. »Ist immer noch alles so wie früher hier drin. So als ob Marco nur kurz weg wäre.«

Es folgte eine Pause, in der er den Kopf wieder von uns abwandte.

»Ich weiß nicht, was mich hier reingezogen hat«, fuhr er nach einer Weile leise fort, während er sich langsam vom Boden erhob. »Irgendwie musste ich mir das alles einfach mal wieder ansehen.«

Es schien ihn einige Kraft zu kosten, ein leichtes Lächeln in Enricos Richtung zustande zu bringen. Als er seinem Freund schließlich entgegentrat, schien sein Gesichtsausdruck aber doch Wiedersehensfreude widerzuspiegeln.

»Hi, Enrico!«

»Hi, Kevin!«

Die beiden nahmen sich kumpelhaft in den Arm und klopften einander mehrmals auf die Schulter.

»Lang nicht mehr gesehen, was?« bemerkte Enrico betont locker.

Als die beiden sich wieder voneinander gelöst hatten, wischte Kevin sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.

»Keine Sorge, ich bin schon okay«, wehrte er ab, bevor Enrico oder ich irgendetwas sagen konnten.

»Lasst uns runter gehen«, forderte er uns schließlich auf und schloss die Zimmertür hinter sich.

 

Kapitel 23 - In die Hose

Das nächste Mitglied von Kevins Freundeskreis, das im Laufe des späten Nachmittags eintraf, war ein hübsches, nettes Mädchen namens Sara. Sie fuhr mit einem kleinen, gelben Twingo bis direkt vors Haus - Kevin hatte das große Tor vorsorglich bereits geöffnet - und klingelte an der Tür.

Es folgte eine herzliche Begrüßung mit einer langen Umarmung, in deren Verlauf Kevin mehrere Küsschen auf die Wange erhielt. Er machte das alles bereitwillig mit.

»Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«

»Naja, noch nicht ganz«, beschwichtigte Kevin. »Ich muss schon noch mal zurück in die Klinik. Wir hauen gleich morgen früh wieder ab.«

Er deutete auf mich: »Das da ist übrigens David.«

Er stellte mir auch Sara vor. Wir gaben uns kurz die Hand und sagten Hallo.

»Aber bald bis du wieder ganz zuhause, oder?« kam Sara nochmals zu Kevin gewandt auf das vorherige Thema zu sprechen.

»Ja, dauert nicht mehr lange, dann bin ich wieder hier.«

»Das ist so toll, dass es dir wieder besser geht. Geht’s dir doch, oder?«

Kevin lächelte tapfer. »Ich komm schon wieder in Ordnung.«

»Ich hätte dich so gern mal angerufen, aber Enrico war sich nicht sicher, ob dir das Recht ist.«

Kevin zuckte mit den Schultern. »Jetzt bin ich ja erst mal wieder hier.«

Sara war erst wenige Minuten im Haus, als ein zweites Auto vorfuhr. Diesmal war es ein alter roter Golf, aus dem zwei Jungs ausstiegen. Bevor sie zum Haus kamen, holten sie eine Getränkekiste und zwei prall gefüllte Plastiktüten aus dem Kofferraum. Schwer bepackt kamen sie schließlich herein und stellten alles im Eingangsbereich ab. Enrico und ich machten uns spontan daran, die Sachen in die Küche zu schleppen und dort gleich die Tüten auszupacken, die verschiedene Snacks enthielten. So konnte Kevin die beiden mir noch unbekannten Freunde in Ruhe begrüßen. Nur am Rande bekam ich noch mit, dass der eine Kevin in den Arm nahm und ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange hauchte. Diese Art der Begrüßung fand ich zwar etwas merkwürdig, dachte mir aber zunächst nichts weiter dabei. Kevin schien die Geste auch nicht besonders zu genießen. Als ich zu der Gruppe zurückkehrte, schüttelte Kevin gerade dem anderen die Hand. Diese Begrüßung war zwar weniger innig, schien dafür aber herzlicher zu sein.

»Ihr beide seid also immer noch zusammen«, bemerkte Kevin schließlich und ließ dabei den Blick von dem einen jungen Mann zum anderen schweifen.

»Nee, ‚immer noch’ ist nicht ganz richtig. Wir hatten uns zwischendurch mal getrennt. Irgendwie hat’s dann aber doch noch mal gefunkt.«

Die beiden traten nebeneinander, legten sich demonstrativ gegenseitig die Arme um die Hüften und sahen sich lächelnd in die Augen. Es dauerte einen Moment, bis bei mir der Groschen fiel. Die beiden Jungs waren ein Paar! Jetzt erinnerte ich mich auch wieder, dass Kevin zwei schwule Kumpels erwähnt hatte, als wir gleich in der ersten Woche unseres Klinikaufenthalts den Ort erkundet hatten. Damals - es schien schon endlos lange her zu sein - hatte ich mich vor Kevin als schwul geoutet. Das da waren also die beiden Homosexuellen in Kevins Clique. Da ich die Existenz der beiden bis eben völlig vergessen hatte, war ich auf die Begegnung überhaupt nicht vorbereitet. Ich schüttelte ihnen kurz die Hand, während Kevin sie mir als Maxi und Tobi vorstellte - die Namen passten ja schon mal gut zusammen - und hielt mich dann wieder im Hintergrund. Glücklicherweise war ich nicht auch noch von Tobi umarmt und abgeknutscht worden. Aus irgendeinem undefinierbaren Grund war mir das Aufeinandertreffen mit den beiden ziemlich unangenehm. Möglicherweise lag es daran, dass sie ein Paar waren und ich mir deshalb bei keinem von ihnen irgendwelche Hoffnungen zu machen brauchte. Aber eigentlich konnte das nicht die Ursache für mein Unbehangen sein, denn ich fand sie weder besonders attraktiv, noch hatten die beiden klamottenmäßig irgendetwas Interessantes für mich zu bieten. Was löste dann meine Unsicherheit aus? Vielleicht war es ganz einfach ihr selbstsicheres Auftreten. Im Gegensatz zu Thomas und Stefan, den beiden anderen Schwulen, die ich in den letzten Wochen kennen gelernt hatte, schienen sie nicht mit Problemen zu kämpfen zu haben, sondern verströmten förmlich eine Aura von Lebensfreude. Wahrscheinlich hatten sie auch keine so verqueren Neigungen wie ich. Spontan kam mir wieder einmal mein Kapuzenfetisch in den Sinn. Und falls doch, dann lebten sie diese Vorlieben sicher mit viel Spaß gemeinsam aus.

Da nun in kurzer Abfolge weitere Gäste ins Haus strömten, blieb mir keine Zeit, mir weiter den Kopf zu zerbrechen. Stattdessen kam ich mir unter all den Fremden, die sich untereinander offensichtlich alle gut verstanden, immer verlorener vor. Wenigstens konnte ich mich nützlich machen und zusammen mit Enrico in der Küche Chips und andere Knabbersachen in Schalen füllen und Gläser für die Getränke aus den Schränken holen. Mit ihm war ich mittlerweile ja schon etwas vertraut, so dass ich mich in seiner Gegenwart recht wohl fühlte. Als wir alles auf zwei großen Tabletts ins Wohnzimmer trugen, war der Rest der Gruppe dort bereits versammelt. Kevin saß dicht neben Sara auf der Couch, während Enrico und ich uns noch zwei Stühle aus der Küche holen mussten, weil alle anderen Sitzgelegenheiten bereits belegt waren. Wir zwängten uns schließlich an einer noch freien Stelle nebeneinander in die Runde.

Inzwischen wurde schon eifrig berichtet, was Kevin während seiner Abwesenheit alles verpasst hatte. Zumeist waren das irgendwelche Geschichten über lustige Vorfälle in der Schule oder aus der Freizeit. Die Atmosphäre war zu meiner Überraschung erstaunlich locker. Von großer Anspannung oder Zurückhaltung wegen Kevins Problemen nach dem Tod seines Bruders war nicht viel zu spüren. Nur wenigen von Kevins Freundinnen und Freunden schien es schwer zu fallen, mit der Situation umzugehen. Sogar Kevin schien richtig Spaß zu haben. Auch als es nach einer Weile etwas stiller zuging und man Kevin vorsichtig auf sein eigenes Schicksal ansprach, blieb er erstaunlich gefasst. Zunächst wurden nur zögerlich Fragen darüber gestellt, was in der Klinik allgemein so ablief, ob die Zimmer schön wären und ob das Essen genießbar war. Bei diesen Themen konnte ich mich auch endlich wieder ein wenig am Gespräch beteiligen und ein paar Ergänzungen anbringen. Später wurde Kevin offener und erzählte zögernd, so weit er dazu bereit und in der Lage war, von dem, was er durchgemacht hatte, von seinen Albträumen und von den Therapiegesprächen. Sara hielt dabei seine Hand, strich ihm durchs Haar oder wickelte sich ein paar der Strähnen um den Zeigefinger, während ihre anderen Finger sanft seinen Nacken streichelten.

»Waren die zwei mal ein Paar?« fragte ich Enrico heimlich.

»Nein«, flüsterte er leise zurück. »Aber Sara mag ihn schon lange. Es hat sie ganz schön mitgenommen, dass es ihm so schlecht ging.«

Ich hatte das Gefühl, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnte. Für Kevin hätte mich das natürlich wahnsinnig gefreut. Ich selbst musste mir aber eingestehen, dass ich etwas eifersüchtig war. Schließlich war ich es gewesen, der Kevin in den letzten Wochen immer beigestanden hatte. Jetzt Sara so neben ihm sitzen zu sehen, löste Gefühle in mir aus, die ich nicht erwartet hatte.

Irgendwann wurde das Gespräch wieder auf weniger ernste Themen verlagert. Da ich weder die Personen noch die Orte kannte, von denen die Rede war, versank ich immer mehr in eigenen Gedanken. Ich dachte dabei noch nicht mal mehr über Kevin und Sara nach, sondern fragte mich, was wohl in der Klinik gerade passierte. War dort alles in Ordnung? War Stefan wieder bei Thomas?

Ich zuckte leicht zusammen, als plötzlich eine Hand meine Schulter berührte.

»Du langweilst dich gerade, oder?«

Die Worte kamen von Enrico und es war auch seine Hand, die auf meiner Schulter lag. Ich brauchte einen Moment um wieder richtig im Hier und Jetzt anzukommen.

»Naja, geht so«, antwortete ich schließlich.

»Hat Kevin dir schon den Pool gezeigt?«

»Nein«, antwortete ich. »Ich hab ihn aber schon vom Garten aus durch die Fenster gesehen.«

»Wenn du Lust hast könnten wir schwimmen gehen. Was hältst du davon?«

»Wir zwei?«

»Ja. Oder magst du nicht?«

In Enricos Stimme schwang Enttäuschung mit. Ich hoffte, dass er meine zögerliche Antwort nicht als Ablehnung empfunden hatte.

»Doch, gerne«, antwortete ich daher schnell. »Ich wusste bloß nicht, ob vielleicht sonst noch wer mitkommt.«

»Nee, ich glaube die anderen amüsieren sich hier alle gerade ganz gut. Nur wir beide also. Was ist nun? Kommst du mit?«

Als Antwort nickte ich ihm lächelnd zu. Enrico teilte den anderen noch mit, was wir vorhatten, und verließ dann zusammen mit mir das Zimmer.

»Hast du eine Badehose dabei?« frage er mich beim Hinausgehen.

»Ja. Kevin hat mir mindestens hundert Mal gesagt, dass ich eine mitbringen soll. Ich muss nur schnell rauf, um sie zu holen.«

Am Nachmittag hatte Kevin mir bereits das Gästezimmer gezeigt, in dem ich in der kommenden Nacht schlafen würde. Dieses lag wie sein eigenes Zimmer im ersten Stock. Da ich bereits meinen Rucksack dort deponiert hatte, in dem auch die Hose war, rannte ich schnell nach oben.

»Handtücher liegen unten am Pool«, rief Enrico mir noch nach.

Keine Minute später liefen wir schon die Treppe ins Untergeschoss hinunter - das Wort ‚Keller’ wurde dem, was uns dort erwartete, nicht gerecht. Als Enrico das Licht eingeschaltet hatte, fiel mein Blick auf ein richtiges Schwimmparadies. Der Pool war zwar nicht besonders groß, wurde aber effektvoll beleuchtet. Statt der üblichen Rechteckform hatte er abgerundete Seitenwände. Ein paar Liegen und zahlreiche Pflanzen vermittelten eine heimelige Atmosphäre.

»Es gibt auch ’ne Sauna hier unten, aber wenn wir die jetzt einschalten ist die nicht vor Mitternacht heiß.«

»Mir reicht der Pool völlig.« Ich konnte mir gar nicht richtig vorstellen, wie es wäre, nur allein mit Enrico, den ich kaum kannte, in so einer Kabine zu sitzen, wir beide völlig nackt. Oder wickelte man sich in der Sauna üblicherweise ein Handtuch um die Hüften?

Enrico öffnete ein in der Nähe stehendes Schränkchen. »Ich hab hier immer ’ne Badehose deponiert. Früher war ich ständig bei Kevin zum Schwimmen, aber seit das alles passiert ist, war ich nicht mehr hier. Hoffentlich passt sie mir noch.«

Verstohlen grinsend wandte er sich von mir ab, streifte seine Klamotten ab und schlüpfte in die Badehose, die immer noch perfekt saß. Während ich mich selbst ebenfalls meiner Kleidung entledigte, blickte ich mich heimlich ein paar Mal in seine Richtung um. Sein Körper war ziemlich schmal und wenig muskulös. Eine große Sportskanone schien er nicht zu sein. Das war ich aber auch nicht.

Als ich mit dem Umziehen fertig war, schwamm Enrico bereits im Pool. Er war einfach hinein gehüpft. Ich hingegen setzte mich auf den Beckenrand und ließ mich langsam ins Wasser gleiten.

»Du kannst doch schwimmen, oder?« scherzte Enrico.

»Nee, das wirst du mir erst beibringen müssen«, erwiderte ich schlagfertig.

Im nächsten Moment kam mir ein Schwall Wasser entgegen, was mich dazu veranlasste, auch Enrico ein wenig nass zu spritzen. Das hier schien richtig lustig zu werden.

Als Enrico nach einer Weile die Gegenstromanlage einschaltete, war der Spaß perfekt. Wir ließen uns immer wieder bis zur einen Seite des Beckens treiben und schwammen anschließend gegen die Strömung an, bis wir die breite Haltestange am anderen Beckenrand erreicht hatten, wo mehrere Düsen unter uns einen druckvollen Strahl aus Wasser und Luft ausstießen. Manchmal hielten wir uns dann eine Weile an dem Griff fest, um das Sprudeln am ganzen Körper zu spüren, was fast einer Massage glich, ehe wir uns erneut abtreiben ließen.

Zunächst schwammen wir meist Seite an Seite nebeneinander her, später ließ sich immer einer treiben, während der andere auf gleicher Linie gegen die Strömung anschwamm. Das zwang uns zu schnellen Ausweichmanövern, wenn wir uns in der Mitte begegneten. Bisweilen berührten sich dabei unsere Körper. Irgendwann verlor ich jedes Zeitgefühl. Auch Kevin und die anderen, die oben im Wohnzimmer saßen, vergaß ich völlig.

»Hey, ich brauch mal ’ne Pause«, rief mir Enrico irgendwann zu. Besonders viel Kondition schien er wirklich nicht zu haben. Ich selbst fühlte mich noch kein bisschen erschöpft.

»Bleib ruhig drin, wenn du willst.« wies er mich an.

Ich sah ihm zu, wie er aus dem Becken kletterte, sich ein Handtuch aus einem Regal schnappte und sich abzutrocknen begann. Er schien ganz schön aus der Puste zu sein und ließ sich ächzend auf eine der Liegen fallen. Während ich weiter meine Bahnen zog - was alleine weit weniger Spaß machte, wie ich bald feststellte - sah ich öfters zu ihm hinüber und bemerkte dabei, dass auch er seinen Blick meist auf mich gerichtet hatte. Respektvoll musste ich feststellen, dass ich Kevin um seine Freundschaft mit diesem Typ beneidete. Die beiden waren zusammen sicher schon durch dick und dünn gegangen. Es war ja nun wirklich nicht so, dass ich selbst zuhause keine Freunde gehabt hätte, aber so eine wirklich innige Freundschaft wie die von Kevin und Enrico war nicht dabei. Meine eigene Krise hatte mir dies richtig deutlich gemacht. Echtes Verständnis und bedingungslosen Zusammenhalt hatte ich nicht erfahren. Enrico hatte heute sehr gut erkannt, dass Kevin bei den anderen oben gut aufgehoben war, und stattdessen beschlossen, sich um mich zu kümmern, damit auch ich den Abend ein wenig genießen konnte. Und das hatte er wirklich geschafft. Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt.

Nach einer Weile kletterte ich ebenfalls aus dem Becken, griff nach einem Badetuch und lief zu ihm hinüber. Da die Liegen weit auseinander standen, setzte er sich auf und rückte zur Seite, so dass ich neben ihm Platz nehmen konnte.

»Na, jetzt siehst du aber auch ganz schön erschöpft aus«, flachste er.

»Bin ich auch«, musste ich zugeben und wischte mir mit dem Handtuch die Wassertropfen von der Stirn. Ich war sogar so ausgelaugt, dass ich keine Lust hatte, mich weiter abzutrocknen. So beließ ich es dabei, meinen Oberkörper in den weichen Baumwollstoff einzuwickeln und wartete schweigend, bis sich mein Atem etwas beruhigt hatte.

»Mit Kevin bin ich früher auch immer so um die Wette geschwommen«, erzählte mir Enrico derweil. »Als seine Eltern das Haus hier fertig gebaut hatten, war ich zwölf oder so. Am Anfang war ich jeden Tag hier, so begeistert war ich. Meine Eltern können sich so was nicht leisten. Wir wohnen in ’nem stinknormalen Haus. Da hab ich nur ’ne einfache Badewanne zur Verfügung.«

»Kevin hat aber mal erzählt, dass die Ferienwohnung, in der eure Eltern jetzt sind, euch gehört.«

»Naja, meine Großeltern wohnen im Allgäu und haben dort ein Haus. Für die beiden alleine ist das viel zu groß und ein Stockwerk an Fremde vermieten wollen sie nicht. Deswegen können wir den ersten Stock als Ferienwohnung nutzen. Kevin übertreibt eben manchmal ganz gern.«

»Du bist schon lange mit ihm befreundet oder?« wollte ich wissen.

»Ja, unsere Familien kennen sich schon ewig. Unsere Mütter waren Schulfreundinnen. Wir haben schon zusammen im Sandkasten gespielt.«

Er stützte die Hände hinter sich auf und lehnte sich seufzend zurück.

»Ist schon Scheiße, was passiert ist. Kevin ging’s richtig dreckig, oder?« fragte er leise.

Ich nickte: »Das kann man wohl sagen.«

»Nach dem Unfall hat er sich nie was anmerken lassen. Er hat nie seine Gefühle gezeigt. Nicht mal mir, seinem besten Freund. Ich versteh das nicht.«

»Ich glaube, er hat einfach nicht wahrhaben wollen, dass durch den Tod seines Bruders sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde und hat deshalb krampfhaft versucht, so weiterzumachen wie vor dem Unfall. Dass das nicht funktionieren konnte, hat er wohl nicht erkannt. Und deswegen ist er dann irgendwann komplett zusammengebrochen. So wirklich verstanden habe ich das aber auch alles nicht«, musste ich zugeben.

»Ihm geht’s inzwischen aber wirklich besser, oder?«

»Ja, auf jeden Fall«, beruhigte ich Enrico. »Ich denke, er ist wieder ganz okay. Wir müssen uns wohl keine Sorgen mehr um ihn machen.«

Enrico musste lächeln. Wahrscheinlich aus Erleichterung. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck machte mich aber stutzig.

»Du magst ihn, oder?« fragte er mich nach einem Moment des Schweigens.

»Ja. Wie kommst du jetzt darauf?«

»Naja, weil du sagst, dass du dir Sorgen um ihn gemacht hast.«

»Du doch auch, oder?«

»Ja klar, aber ich kenn ihn ja auch schon ewig. Du hast ihn erst in der Klinik kennen gelernt.«

Ich wusste nichts darauf zu erwidern und schwieg verlegen.

»Hey, ich kann das gut verstehen, dass du Kevin magst. Echt gut.«

Seufzend klopfte er mir kurz auf die Schulter.

»Weißt du, als ich so 15 oder Anfang 16 war ...« Er zögerte eine Weile und schien nicht zu wissen, wie er fortfahren sollte. Schließlich beugte er sich nach vorn, stützte sich auf der Vorderkante der Liege ab und richtete den Blick zum Boden. Er atmetet tief ein und erzählte dann leise: »Ich hab Kevin das nie verraten, aber in dem Alter war ich ’ne Weile richtig verknallt in ihn. Ich kann also wirklich verstehen, dass du ihn gern hast.«

Ich war sprachlos. Wahrscheinlich starrte ich Enrico, der mir inzwischen wieder zaghaft die Augen zugewandt hatte, sogar mit offenem Mund an.

»Das heißt, du bist schwul?« brach es aus mir hervor.

»Ja, hat Kevin dir das denn nicht gesagt?« erwiderte er mit sichtlicher Verwunderung.

»Nein!« erwiderte ich. »Hat er nicht!«

Ich schrie die letzten Worte fast heraus, denn im selben Moment wurde mir klar, dass Enrico zwar seine Verliebtheit vor Kevin geheim gehalten hatte, nicht aber seine Homosexualität. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Kevin hatte mir nur etwas von zwei Schwulen in seinem Freundeskreis erzählt, nicht von dreien. Und diese beiden waren ja nun ganz eindeutig Maxi und Tobi. Was ging hier gerade vor? Nichts passte auf einmal mehr zusammen.

»Kevin weiß, dass du schwul bist?« fragte ich noch einmal nach, nur um sicher zu gehen, dass ich nichts missverstanden hatte.

»Ja, klar weiß er das.«

Enrico sah mich völlig verstört an, während mir eine weitere Erkenntnis dämmerte. Offensichtlich wusste Enrico über mich Bescheid. Er wusste, dass auch ich schwul war. Wie hätte er meine Gefühle für Kevin sonst richtig deuten können? Und warum hätte er mir sonst erzählen sollen, dass auch er mal in Kevin verknallt gewesen war? Ich versuchte krampfhaft, meine Gedanken zu ordnen.

»Du weißt von mir, dass ich schwul bin?« Ich realisierte erst jetzt, dass ich aufgesprungen war und wild gestikulierend vor ihm stand, während er hilflos zu mir aufblickte.

»Ja«, antwortete er völlig arglos.

»Woher?«

»Von Kevin.« Enrico war inzwischen ziemlich kleinlaut.

Ich merkte gar nicht, dass mein Verhalten ihm gegenüber nicht in Ordnung war. »Warum verrät Kevin dir, dass ich schwul bin? Ich hab ihm das nicht erlaubt! Und mir sagt er nichts über dich!«

»Ich weiß nicht. Ich dachte, er hätte dir gesagt, dass ich auch schwul bin. Wirklich!«

»Hat er dir mehr über mich erzählt?«

»Ja, schon.«

Ich wand mich von ihm ab und feuerte mein Badetuch gegen die nächste Wand. Im Moment wollte ich gar nicht wissen, was Kevin alles über mich ausgeplaudert hatte. Welches Spiel wurde hier verdammt noch mal gespielt? Sollte dies so eine Art Verkuppelungsversuch sein, von dem ich als Einziger nichts wusste? Wahrscheinlich hatte Kevin sogar verraten, dass ich auf Kapuzen stand und nur deswegen war Enrico heute mit aufgesetzter Kapuze aufgetaucht. Ich lief Richtung Ausgang und schnappte mir unterwegs meine Klamotten.

»Hey, warte doch«, rief Enrico mir nach. Er war mir inzwischen gefolgt und sah richtig verzweifelt aus. »Was ist denn los? Ich versteh das alles nicht!«

»Dann geht’s dir wie mir!« erwiderte ich barsch. Ich hatte zwar das Gefühl, ihm irgendwie Unrecht zu tun, konnte mich im Moment aber nicht beherrschen. Er eilte mir immer noch hinterher, als ich die Treppe ins Erdgeschoss hinauf hastete. Als ich seine Schritte hinter mir hörte, wandte ich mich kurz um, und giftete ihn an: »Lass mich!«

Im Eingangsbereich angelangt hörte ich Gelächter aus dem Wohnzimmer dringen. Fast hatte ich das Gefühl, dass die Stimmen mich auslachten. Ich kämpfte gegen die aufkommende Paranoia an und verschwand schnell die Treppe hoch im Gästezimmer, wo ich die Tür hinter mir zuknallte und mich aufs Bett warf.

Es dauerte keine Minute, bis mir klar wurde, dass ich völlig überreagiert hatte. Was war denn schon passiert? Kevin hatte Enrico verraten, dass ich schwul war. Na und? Da war schließlich nichts dabei. Warum er mir im Gegenzug nichts über Enrico erzählt hatte, konnte ich mir zwar immer noch nicht erklären, aber irgendeinen Grund musste es dafür schließlich gegeben haben. Vielleicht hatte er es einfach nur vergessen. Trotzdem war ich stinksauer auf ihn.

Da ich immer noch die nasse Badehose anhatte, begann ich langsam zu frösteln. Ich streifte sie ab und begann mich anzuziehen, stellte aber schnell fest, dass mir eine Socke fehlte. Sie musste unterwegs aus dem Jeans- und Sweatshirt-Knäuel herausgefallen sein. Frustriert schlüpfte ich unter die Bettdecke und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen. Die Zeit im Pool mit Enrico war so schön gewesen! Irgendwas war danach ganz fürchterlich in die Hose gegangen.

Nach einigen Minuten klopfte es an der Tür.

»David? Kann ich reinkommen?« drang es gedämpft herein. Eindeutig Kevins Stimme.

Ich gab keine Antwort und wartete ab, bis er auch ohne meine ausdrückliche Erlaubnis ins Zimmer trat. Er war allein und wirkte fast genauso hilflos wie Enrico eben.

»Was hast du Enrico alles über mich erzählt?« fuhr ich ihn sofort an, nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte.

»Nichts was dir peinlich sein müsste. Wirklich! Ja, ich hab ihm verraten, dass du schwul bist. Du hast das vor mir und den anderen in der Klinik doch auch nicht verheimlicht, oder?«

»Und was sonst noch?«

»Dass du ein toller Typ bist, ganz gut aussiehst, und dass du in Bad Neuheim immer für mich da warst. Dass ich’s ohne dich dort vielleicht gar nicht ausgehalten hätte.« Er musste schlucken, als er den letzten Satz aussprach.

Ich beruhigte mich etwas und mein Ärger verflog ob seiner emotionalen Reaktion zumindest zum Teil. Leiser setzte ich mein Verhör fort: »Als Enrico heute mit dem Rad kam, hatte er die Kapuze auf. Hast du ihm erzählt, dass mir das gefällt?«

»Mann, es hat geregnet du Idiot!« fuhr Kevin mich daraufhin ärgerlich an. »Da setzen auch andere Leute außer dir schon mal ’ne Kapuze auf. Und selbst wenn ich ihm davon erzählt hätte, was ich nicht habe, wäre das so schlimm? Du bist echt der Einzige, der glaubt, dass man sich für so was Harmloses schämen muss!«

»Und warum hast du mir nicht verraten, dass Enrico schwul ist? Kannst du mir das mal erklären? Du hast mir überhaupt nichts von ihm erzählt!«

Kevin seufzte und ließ sich neben mir aufs Bett fallen.

»Okay, das hab ich anscheinend wirklich vermasselt«, gab er zu. »Aber ich kann dir erklären, warum das jetzt alles so blöd gelaufen ist.«

»Dann fang mal damit an.«

»Gut«, seufzte er und fuhr zögernd fort: »Du weißt doch noch, wie du wegen diesem Daniel reagiert hast, dem Typ aus der anderen Gruppe.«

Natürlich erinnerte ich mich daran.

»Du hast dir da Hoffnungen gemacht, und als der Typ plötzlich wieder weg war, bist du total ausgetickt.«

Als Austicken hätte ich meine damalige Reaktion zwar nicht bezeichnet, aber ich musste zugeben, dass Kevin da einen wunden Punkt getroffen hatte.

»Wenn ich dir erzählt hätte, dass Enrico schwul ist, dazu noch genauso jungfräulich wie du, und dass er dich gerne kennen lernen möchte, dann hättest du dir vielleicht wieder irgendwelche übertriebenen Hoffnungen gemacht, oder?«

Ich brauchte eine Weile, um alle Informationen zu verarbeiten. Soeben erfuhr ich mehr, als ich überhaupt erhofft hatte. »Das heißt, du wolltest nur, dass ich nicht wieder eine Enttäuschung erlebe?« fragte ich nach und tat so, als ob ich die Aussage über Enricos sexuelle Unerfahrenheit überhört hätte.

»Ja. Ich hab mir gedacht, dass Enrico wahrscheinlich gar nicht dein Typ ist, wegen der roten Haare und so.«

»Nee, eigentlich find ich ihn ganz süß«, gab ich mit einem seligen Grinsen zu. »Außerdem ist er ein total netter Kerl.«

»Na siehst du, dann ist doch alles in Ordnung. Ich hätte euch einfach nur besser aufeinander vorbereiten müssen. Bist du noch böse?«

Ich schüttelte den Kopf, wollte aber doch noch etwas wissen: »Eine Sache versteh ich trotzdem noch nicht. Du hast mir mal gesagt, dass zwei deiner Freunde schwul sind. Hast du dich da verzählt oder was?«

Kevin schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Daran erinnerst du dich noch? Dann hast du wahrscheinlich gedacht, dass Maxi und Tobi damit gemeint waren, als die heute aufgetaucht sind, oder?«

»Ja, was hätte ich sonst denken sollen?«

»Okay, dann erklär ich dir das auch noch. Maxi gehört wirklich zur Clique, aber der schleppt immer mal wieder ’nen anderen Freund mit an. Normalerweise hält das bei ihm nie lange. Diesen Tobi kenne ich eigentlich kaum. Ich war total überrascht, dass der überhaupt mitgekommen ist.«

»Dann hast du damals in Bad Neuheim nicht Maxi und Tobi, sondern Maxi und Enrico gemeint?«

»Genau, du hast’s kapiert. Ist jetzt alles geklärt? Kommst du wieder mit runter?«

Eigentlich hätte ich das nun tun sollen. Hinuntergehen und mich dort sofort bei Enrico entschuldigen. Aber mir war der Vorfall von eben viel zu peinlich, um Enrico jetzt wieder unter die Augen treten zu können.

»Ich kann nicht. Ich hab nur eine Socke«, erfand ich deshalb spontan als Ausrede und streckte Kevin meine Füße entgegen, von denen der eine immer noch nackt war. »Die andere hab ich irgendwo verloren.«

»Soll ich suchen gehen?« kam es sofort spöttisch zurück.

»Nein«, antwortete ich betrübt. »Ich kann da jetzt wirklich nicht mit runter. Ich hab mich total blöd benommen. Enrico muss mich doch jetzt für ’nen totalen Spinner halten. Außerdem wird das mit ihm und mir sowieso nichts. Du und ich, wir müssen morgen früh schon wieder zurück in die Klinik. Und ich wohne mehr als 200 Kilometer entfernt von hier. Wie soll das funktionieren? Du wolltest nicht, dass ich mir falsche Hoffnungen mache. Jetzt will ich nicht, dass Enrico sich falsche Hoffnungen macht. Kannst du ihm sagen, dass mir das alles Leid tut, dass ich ihn mag und dass das Schwimmen mit ihm ganz toll war, aber dass das mit uns einfach keinen Sinn hat?«

»Wenn du meinst«, erwiderte Kevin enttäuscht. »Aber überleg dir das besser noch mal, okay? Ich werde Enrico erst mal sagen, dass du noch ’ne Weile allein sein willst, um das alles zu verdauen, okay?«

Kevin war inzwischen aufgestanden und zur Tür gelaufen. Als von mir keine Antwort mehr kam, verließ er sichtlich frustriert den Raum. Ich wandte mich ab und hörte noch, wie sich seine Schritte entfernten. Nach wenigen Momenten kamen sie zurück und ein Fetzen Stoff flog über mich hinweg.

»Da hast du deine Socke!« hörte ich Kevin von außerhalb des Zimmers rufen. »Lag gleich hier oben neben der Treppe.«

Dann schlug die Tür zu und ich war allein.

Lange lag ich einfach nur so da, wälzte mich von einer Seite auf die andere und zerbrach mir den Kopf darüber, wie es nun weitergehen sollte. Egal was ich auch tat, ich würde Enrico längere Zeit nicht wiedersehen können. Am nächsten Tag ging es gleich zurück nach Bad Neuheim und wenn ich in der übernächsten Woche die Klinik verlassen hatte, würde für mich bis zum Abitur die Schule an erster Stelle stehen müssen, um die Prüfungen überhaupt noch schaffen zu können. Für andere Dinge würde nicht viel Zeit bleiben. Bestenfalls konnte ich also jetzt noch ein paar Stunden mit Enrico verbringen. Ein paar Stunden! Was war das schon? Danach würde mir der Abschied bestimmt nicht leicht fallen. Da blieb ich doch lieber hier im Zimmer! Das Einzige, was mich daran hinderte, war die Erinnerung an Enricos Gesichtsausdruck, als ich ihn so brüsk am Pool zurückgelassen hatte. Wie er sich jetzt wohl fühlte? Mein Verhalten hatte ihn bestimmt verletzt. Ich musste mich auf jeden Fall selbst bei ihm entschuldigen, schämte mich aber immer noch zu sehr für meinen Auftritt von vorhin, um sofort dazu bereit zu sein. Ein zufälliger Blick auf den Wecker am Nachttisch ließ mich dann aber aufschrecken. Es war bereits nach 22:00 Uhr! Ich hatte überhaupt nicht realisiert, wie viel Zeit inzwischen verstrichen war. Wir mussten wirklich ziemlich lange im Pool herumgetollt sein. Ob Enrico vielleicht schon gegangen war? Ich meinte, bereits vor einiger Zeit von unten Stimmen und das Zuschlagen der Haustür gehört zu haben. Entmutigt ließ ich mich wieder aufs Bett fallen.

Nur Momente später klopfte es, die Zimmertüre öffnete sich einen Spalt und Kevin lugte herein.

»Was ist jetzt?« wollte er wissen. »Hast du dich entschieden, noch mal runterzukommen?«

»Ist Enrico noch da?« fragte ich sofort zurück.

Kevin kam nun ganz ins Zimmer. »Die meisten sind schon weg, wollten den Rest des Abends noch woanders verbringen. Hätten uns beide auch gerne mitgenommen, aber ich hab gesagt, wir müssen morgen früh raus.«

»Und Enrico?« wollte ich voller Verzweiflung nochmals wissen.

»Der ist noch unten. Ist immer noch ganz schön durch den Wind. Sara ist auch noch da.«

Ich rappelte mich hoch, zog mich endlich fertig an und brachte vor dem Spiegel so schnell es ging meine Frisur in Ordnung. Dann stapfte ich hinter Kevin die Treppe hinunter und erblickte dabei sofort Enrico, der uns mit ängstlichem Gesichtsausdruck von unten entgegensah.

»Hey, es tut mir wirklich leid«, fing er sofort an.

Ich brachte ihn mit einer sanften Geste zum Schweigen.

»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, begann ich. »Ich hab mich total blöd benommen. Völlig überreagiert. Mir tut’s wirklich leid. Es war echt toll mit dir im Pool, wirklich!«

Enrico entspannte sich sichtlich und schenkte mir ein dankbares Lächeln. Auch Sara kam nun aus dem Wohnzimmer zu uns dreien herüber.

»Hallo David, da bist du ja wieder«, rief sie mir zu und hielt gleichzeitig eine Monopoly-Schachtel in die Höhe. »Habt ihr da drauf vielleicht jetzt Lust?«

Wir folgten ihr zurück in den Raum und ließen den Abend in geselliger Runde mit einem lustigen Spiel ausklingen. Als Sara und Enrico kurz nach Mitternacht gingen, fiel uns allen der Abschied schwer. Während Sara und Kevin sich lange umarmten, standen Enrico und ich uns nachdenklich gegenüber.

»Du kommst doch sicher bald mal, um Kevin zu besuchen, oder?« wollte er vorsichtig wissen.

»Klar, dann sehen wir uns wieder.«

»Vielleicht könnt ihr ja am nächsten Wochenende noch mal herkommen?«

Ich schüttelte traurig den Kopf. »Das ist das letzte Wochenende, an dem unsere Gruppe noch komplett in der Klinik zusammen sein wird. Die meisten dürfen danach heim. Ich auch. Wir hatten vor, am Samstagabend Abschied zu feiern.«

»Oh!« reagierte Enrico enttäuscht.

»Hey, wir sehen uns wieder«, versuchte ich ihn aufzumuntern.

»Versprochen?«

»Ja, versprochen!«

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