Durch den Regen - Eine Story von Robin

 

Der Himmel war grau und wolkenverhangen, als ich aus dem Fenster sah. Genauso grau und wolkenverhangen wie die letzten zwanzig oder dreißig Mal, an denen ich in der letzten Viertelstunde gelangweilt einen Blick durch die Scheibe geworfen hatte. Der Ausblick aus dem zweiten Stock auf das Schulgelände war ziemlich trist. Vom verlassenen, mit grauen Steinen gepflasterten Pausenhof war von meiner Position aus nur ein schmaler Streifen zu erkennen. Weiter hinten ragte die verwitterte Fassade unserer Schulturnhalle empor. Dazwischen lag ein schmales Beet. Dort würde sich in ein paar Wochen eine wohl eher bescheidene Blütenpracht entfalten, allerdings auch nur dann, wenn vorher nicht irgendjemand alles niedertrampelte. Jetzt im März waren die mickrigen Büsche und die anderen Kleinpflanzen aber noch kahl und genauso trostlos wie alles andere.

Irgendwann fiel Herrn Mautner, dem Leiter unseres Geschichtskurses, wohl auf, dass ich die meiste Zeit aus dem Fenster starrte. „Lennart!“ rief er mir zu. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich da draußen irgendetwas Spannenderes abspielt als hier drinnen in meinem Unterricht.“

Ich wagte nicht, ihm zu widersprechen, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass das Betrachten der verschnörkelten Ornamente an der Turnhallenfassade zumindest marginal unterhaltsamer war.

Normalerweise saß Marius neben mir, an diesem Vormittag war sein Stuhl jedoch verwaist. Mit ihm konnte ich sonst recht gut die Zeit mit unterrichtsfremden Tätigkeiten totschlagen. Das fiel unseren Lehrkräften zwar auch öfters auf, etwas Schlimmeres als Ermahnungen - ähnlich der von gerade eben - hatten wir bisher aber noch nie dafür kassiert. Ohne Marius langweilte ich mich erbärmlich. Ich fragte mich natürlich, was mit meinem besten Freund los war, ob er krank war oder einfach keine Lust auf Schule hatte. Normalerweise machte Marius aber nicht blau, eine Krankheit erschien mir daher wahrscheinlicher zu sein.

Ich ließ meine Augen interesselos durch den Raum schweifen und wurde auf einmal stutzig, als ich sah, wie Julian, der ganz vorne in der gegenüberliegenden Ecke des Klassenzimmers saß, plötzlich einen schüchternen Blick über die Schulter warf, und zwar genau in meine Richtung. Glotzte er tatsächlich mich an? Als ich verwundert die Augenbrauen hochzog, zuckte er erschrocken zusammen und wandte sich schnell wieder ab. Jetzt war ich mir ganz sicher, dass er mich angesehen hatte.

Über Julian muss man einige Dinge wissen. Zum einen, dass er großen Wert darauf legt, dass sein Vorname englisch ausgesprochen wird, also „Dschulien“. Die meisten von uns anderen nennen ihn aber trotzdem „Julian“, schon allein deshalb, weil wir wissen, dass man ihn sehr gut ärgern kann, wenn man seinen Namen deutsch ausspricht. Lediglich die Lehrkräfte und ein paar Mädchen, die immer in seiner Umgebung sitzen, halten sich an Julians Wunsch. Letztere sind auch die Einzigen, die mit ihm befreundet sind. Wann immer es möglich ist, bilden sie mit ihren Körpern einen Schutzwall um Julian herum, um ihn vor uns anderen abzuschirmen. Damit können sie aber nicht verhindern, dass er die abfälligen Bemerkungen, die der Rest des Jahrgangs bisweilen über ihn macht, mit anhören muss. Ein wütendes „Jetzt lasst ihn doch endlich in Ruhe!“ ist dann die Standardreaktion von Julians Freundinnen. Wenn deren Blicke töten könnten, wäre mittlerweile mindestens die Hälfte von uns anderen elendiglich verreckt. Die Mädchen in seiner Nähe zählen nicht gerade zu denen, für die ich mich normalerweise interessiere. Damit will ich sagen, dass sie nicht gerade zu den Attraktivsten gehören. Eine von ihnen bringt jedenfalls definitiv ein paar Kilos zu viel auf die Waage und die mit der Brille ist eine totale Streberin. Als Streber kann man Julian hingegen nicht bezeichnen. Seine schulischen Leistungen liegen wohl ungefähr im Durchschnitt. Außerdem meldet er sich dazu viel zu selten im Unterricht. Er ist aber kein Stotterer oder irgendwie behindert. Er ist auch weder hässlich noch fett, trägt keine Brille und auch keine billigen Klamotten. Nein, ganz im Gegenteil! Er sieht eigentlich ziemlich gut aus, trotzdem aber irgendwie anders als wir normalen Jungs. Er kleidet sich nämlich ziemlich extravagant. Man könnte es so ausdrücken: Jedes Detail an ihm ist stets geradezu perfektionistisch durchgestylt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sogar Make-up verwendet. Was ich damit andeuten will, ist folgendes: Julian ist schwul. Er hat sich zwar nie wirklich öffentlich geoutet, aber irgendwie weiß jeder auch so Bescheid. Man merkt es ihm einfach an.

Normalerweise schwatzt und kichert er nur mit seiner weiblichen Gefolgschaft und ignoriert die restlichen Mitschüler völlig, so als ob wir anderen überhaupt nicht existierten. Wenn er sich sonst zu seinen hinter ihm sitzenden Freundinnen umdreht, dann immer nur mit gesenktem Blick, um ja niemand anderem in die Augen sehen zu müssen. Warum hatte er also vorhin direkt zu mir in die letzte Reihe gestarrt? Jetzt stellte ich auch fest, dass es vorne in seiner Ecke heute ruhiger zuging als sonst. Es fiel richtiggehend auf, dass das übliche Geschnatter und Gekicher zwischen ihm und seinem Fußvolk fehlte. Stattdessen flüsterte man dort gerade ernsthaft miteinander und steckte dabei richtig die Köpfe zusammen, sodass auch ja kein anderer mitbekam, was da geredet wurde. Ich wollte meinen Blick gerade wieder von der Gruppe abwenden, als plötzlich auch eine von Julians Freundinnen zu mir nach hinten sah. Ich konnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht richtig deuten. Sah sie mich ärgerlich an? Oder irgendwie ratlos? Ich fragte mich, was da vorne vor sich ging. Tuschelten die etwa über mich? Ich konnte mich nicht erinnern, in den letzten Tagen irgendwie Julians Aufmerksamkeit auf mich gelenkt zu haben. Hoffentlich dachte er nicht, ich wäre zum anderen Ufer übergelaufen, nur weil ich letzte Woche mit Jasmin Schluss gemacht hatte. Dann hätte ich ihm nämlich eindringlich klarmachen müssen, dass ich schon längst ein Auge auf Franziska geworfen hatte und mir ziemlich sicher war, dass ich spätestens Ende April mit ihr im Bett landen würde. Als mir aus Julians Richtung für eine Weile keine weitere Aufmerksamkeit mehr geschenkt wurde, wandte ich mich wieder anderen Dingen zu. Ein paar Minuten später hatte ich die ganze Sache schon fast wieder vergessen.


Am Nachmittag lag ich faul auf der Couch in meinem Zimmer, den Controller meiner Playstation in der Hand. In der knappen Stunde, in der ich zu Hause war, hatte ich zwei Mal versucht, Marius per Handy zu kontaktieren, um zu erfahren, was mit ihm los war, aber immer nur seine Mailbox erreicht. Auf drei SMS hatte er ebenfalls nicht reagiert. Er war wohl wirklich krank und brauchte Ruhe. Ich wollte mich gerade dazu aufraffen, den Controller beiseite zu legen und mich um meine Hausaufgaben zu kümmern, als es an der Tür klingelte. Meine Eltern waren beide arbeiten, daher war ich allein im Haus. Das bedeutete natürlich auch, dass ich es war, der nachsehen musste, wer da läutete. Ich rollte mich also vom Polster, schaltete noch schnell den Bildschirm aus und trabte dann gemächlich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Ich überlegte kurz, ob vielleicht sogar Marius draußen am Eingang wartete. Die Person, die tatsächlich vor der Tür stand, hatte ich aber am allerwenigsten erwartet.

Mittlerweile fiel draußen leichter Regen und seine sonst so sauber gestylte Frisur hatte bereits ein wenig darunter gelitten. Er trug noch dasselbe extravagante, eng anliegende Langarmshirt wie am Vormittag. Ich erinnerte mich noch genau an den goldenen Glitzerdruck auf der Vorderseite. Jetzt war der Stoff an einigen Stellen aber ziemlich feucht. Eine Jacke schien er nicht dabeizuhaben. Auch die sonst übliche weibliche Begleitung fehlte. Er war wohl tatsächlich ganz alleine gekommen.

„Was willst du denn hier … Juuliaan?“ fragte ich ihn, als ich mich von meiner Überraschung erholt hatte. Seinen Namen sprach ich ganz absichtlich mit dieser Betonung aus. Ich wollte ihn damit zwar nicht unbedingt ärgern, denn eigentlich gehörte ich nicht zu denjenigen, die ihn mobbten. Ein paarmal hatte er aber auch schon von mir einen blöden Spruch zu hören bekommen. Dabei fand ich es eigentlich gar nicht toll, wie fies er manchmal behandelt wurde. Mein Mitleid hielt sich allerdings meist in Grenzen, schließlich kam es nie zu körperlichen Übergriffen. Außerdem hatte er ja sonst immer seine Verteidigerinnen um sich. Ich hatte mich auch schon öfters darüber geärgert, dass sich kaum ein Lehrer an dem ständigen Gegacker in seiner Ecke zu stören schien, während Marius und ich schon unzählige Male ermahnt worden waren, weil wir während des Unterrichts miteinander geredet hatten. Natürlich wunderte ich mich, was er von mir wollte. Sofort erinnerte ich mich an unseren Blickwechsel vom Vormittag und vermutete, dass sein Besuch irgendwie damit zusammenhing.

Julian schien unschlüssig zu sein, ob er etwas sagen oder einfach wieder gehen sollte. Schließlich meinte er: „Vergiss es einfach. War keine gute Idee, dass ich hergekommen bin.“

Ich glaubte, einen Anflug von Verzweiflung aus seiner Stimme herauszuhören. Als er sich bereits wieder von mir abgewandt hatte und mit hängenden Schultern die paar Schritte zu der Stelle unter unserem Carport lief, an der sein Fahrrad abgestellt war, rief ich ihm nach: „Jetzt warte doch mal!“

Zögerlich blieb er stehen und drehte sich zu mir um. Ein paar Regentropfen liefen ihm übers Gesicht. Verdammt, waren das vielleicht sogar Tränen? Weinte er etwa?

„Jetzt sag schon, was los ist!“ rief ich ihm zu. Meine Stimme hörte sich genervter an, als ich beabsichtigt hatte. Daher fügte ich in einem etwas freundlicheren Tonfall hinzu: „Komm erst mal mit rein. Hier draußen wird’s langsam ziemlich nass.“

Der Regen nahm tatsächlich gerade an Stärke zu und die nassen Flecken auf Julians Shirt wurden zusehends größer. Wortlos folgte er mir ins Haus.

„Verrätst du mir jetzt, was du hier willst?“ fragte ich ihn, nachdem ich die Haustür hinter uns geschlossen hatte. Als er nach ein paar Sekunden noch nicht reagiert hatte, sprach ich ihn erneut an: „Dschulien?“

Diesmal bemühte ich mich, seinen Namen so auszusprechen, wie er es mochte. Ich schenkte ihm sogar ein kurzes Lächeln, auch wenn mich das ein wenig Überwindung kostete, weil ich von seinem unverhofften Auftauchen immer noch eher genervt war.

„Es geht um Marius“, antwortete er zögerlich mit gesenktem Kopf. Er sprach so leise, dass ich mir im ersten Moment nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte.

„Marius? Was ist mit Marius?“ fragte ich daher zurück.

Ich spürte sofort so etwas wie Angst in mir hochkommen. War mit Marius etwas Schlimmeres passiert? War das der Grund, warum er nicht in der Schule gewesen war? Hatte er vielleicht einen Unfall mit seinem Motorroller gehabt? Aber woher wusste Julian davon und warum kam er damit zu mir?

Statt mir eine Antwort zu geben, erwiderte er schüchtern: „Er ist nicht hier bei dir, oder?“

„Meinst du Marius?“ antwortete ich verdattert. Ich kapierte überhaupt nichts mehr. Julian sah mich groß an und schien auf eine Reaktion von mir zu warten. Daher sagte ich: „Wie kommst du darauf, dass Marius hier bei mir sein könnte?“

„Er war heute nicht in der Schule“, antwortete Julian zögerlich, ohne dass das für mich irgendeinen Sinn ergab, geschweige denn meine Frage beantwortet hätte.

„Ja, stell dir vor, das hab ich auch gemerkt, dass er heute gefehlt hat“, fuhr ich ihn an. Als ich sah, wie heftig Julian zusammenzuckte, bereute ich meine aufbrausende Reaktion sofort. Er schien kurz davor zu sein, in Tränen auszubrechen.

So langsam dämmerte mir, dass sich Julian am Vormittag möglicherweise gar nicht so sehr für mich interessiert hatte, sondern eher für den leeren Stuhl neben mir, auf dem Marius sonst immer saß.

„Hey, ist schon okay“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Ich bemühte mich, meine Stimme möglichst freundlich klingen zu lassen. „Sag doch einfach, was los ist. Was willst du von Marius? Was ist mit ihm?“

„Ich kann dir das nicht so einfach sagen“, druckste Julian herum.

„Ist ihm was passiert?“

Julian schüttelte den Kopf und meinte: „Nein, nicht direkt. Verdammt, ich weiß nicht! Vielleicht.“

„Was soll das den bitte heißen? Was soll das hier überhaupt?“

So langsam riss mir der Geduldsfaden. Meine Stimme wurde ebenfalls wieder lauter. Weil ich mir auf das alles keinen Reim machen konnte, suchte mein Kopf nach möglichen Erklärungsversuchen. War es zwischen Marius und Julian zu einer Auseinandersetzung gekommen, vielleicht sogar zu einer körperlichen? Hatte Marius dabei eventuell den Kürzeren gezogen und ein blaues Auge kassiert? War er nicht in der Schule gewesen, weil er sich schämte, einem Schwulen körperlich unterlegen zu sein, oder war er sogar ernsthafter verletzt worden? Wollte Julian sich jetzt vielleicht bei Marius sogar entschuldigen, wo er ja anscheinend nach ihm suchte? Das alles ergab jedoch überhaupt keinen Sinn. Marius war einfach nicht der Typ, der andere fertigmachte. Er war einer der friedliebendsten Menschen, die ich kannte, und hatte Julian bisher noch nie etwas getan. Ich hatte aus seinem Mund auch noch keinen einzigen blöden Spruch über Schwule gehört.

Julian setzte erneut zu einer Erklärung an: „Er war nicht in der Schule. Zu Hause ist er scheinbar auch nicht. Und sein Handy ist schon den ganzen Tag über aus.“

Jetzt war ich komplett verwirrt. Julians Aussagen brachten immer noch kein Licht ins Dunkel und warfen bei mir nur neue Fragen auf.

„Woher weißt du, dass er nicht zu Hause ist? Und woher hast du überhaupt seine Handynummer?“

„Ich bin gleich nach der Schule bei ihm vorbeigefahren. Es geht niemand an die Tür, obwohl ich mindestens zehn Mal geklingelt hab. Und bei seinem Handy kommt immer sofort die Mailbox. Ich hab ihm schon ein paarmal draufgesprochen und auch schon massenhaft SMS geschickt, aber er ruft das scheinbar alles nicht ab.“

Ich schüttelte verständnislos den Kopf und unterbrach ihn: „Sorry, aber ich kapier echt nicht, was du hier abziehst. Kannst du mir vielleicht mal erklären, was du mit Marius zu schaffen hast? Und warum bist du überhaupt zu mir gekommen?“

Er blickte mich von unten her an und fragte schüchtern: „Du bist doch sein bester Freund, oder?“

„Könnte man so sagen“, erwiderte ich nickend.

„Dann müsstest du doch gemerkt haben, dass es ihm in letzter Zeit nicht gut ging, oder?“ äußerte er zögerlich.

„Hä?“ gab ich verwirrt zurück. „Was soll ich gemerkt haben? Du kennst Marius doch überhaupt nicht und jetzt erzählst du mir, dass es ihm nicht gut geht? Wie kommst du auf so was?“

„Mann, du bist echt total unsensibel!“ fuhr Julian mich plötzlich wütend an. Jetzt war ich es, der zusammenzuckte, weil ich diesen abrupten Gefühlsausbruch nicht vorhergesehen hatte. „Ihm geht’s monatelang total scheiße und du merkst es nicht mal!“

Irgendwas in seinen Worten machte mich nachdenklich. Wenn ich genau überlegte, dann schien tatsächlich etwas Wahres an seiner Behauptung zu sein. Marius war in der letzten Zeit wirklich stiller gewesen als sonst, und manchmal hatte ich sogar selbst den Eindruck gehabt, dass er irgendwie deprimiert war. Er hatte zwar meist gute Laune vorgetäuscht und mich damit auch immer wieder überzeugt, dass ich mir seine Stimmungsschwankungen nur einbildete, tatsächlich hatte ich aber doch irgendwie bemerkt, dass er sich verändert hatte. Nur hatte ich darüber eben bisher nie länger nachgedacht.

Julian und ich standen uns immer noch im Hausflur gegenüber. Mittlerweile war mein ganzer Ärger über sein plötzliches Auftauchen und sein undurchsichtiges Verhalten verflogen. Ich lief ein paar Schritte die Treppe nach oben, die hinauf in mein Reich - das ausgebaute Dachgeschoss - führte, und hockte mich auf eine der Treppenstufen. Ich rutschte ein Stück zur Wand und deutete auf die freie Fläche neben mir.

„Okay, setz dich erst mal“, richtete ich mich wieder an Julian. „Was kümmert dich Marius überhaupt? Du kennst ihn doch überhaupt nicht.“

„Ich kenn ihn auf jeden Fall besser als du denkst“, erwiderte er grimmig. Meiner Aufforderung, neben mir Platz zu nehmen, kam er jedoch nicht nach. Er schien lieber stehenbleiben zu wollen. Und dann fügte er auch noch - beinahe angriffslustig - hinzu: „Vielleicht kenn ich ihn sogar besser als du!“

„Wohl kaum“, gab ich giftig zurück, schließlich hatten Marius und ich schon als kleine Kinder miteinander im Sandkasten gespielt. Seit dieser Zeit hatte uns nie etwas trennen können. „Okay, du hast gemerkt, dass er nicht gut drauf ist. Mir ist das halt nicht so aufgefallen. Trotzdem kapier ich nicht, was dich das überhaupt angeht.“

Julian schnaubte verächtlich und meinte: „Mann, wir verschwenden hier echt nur Zeit. Ich wollte eigentlich nur von dir wissen, ob dir was einfällt, wo er vielleicht sein könnte, und nicht ewig mit dir rumdiskutieren.“

„Dann sag doch endlich, was hier eigentlich abgeht!“

„Mann, ich mach mir verdammte Sorgen um Marius!“ schrie er mich an und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne weg, die ihm gerade aus dem Auge lief. „Gestern Nachmittag ist was passiert und danach war Marius total fertig“, fing er an zu erklären. Er konnte nur mühsam ein Schluchzen unterdrücken. „Und jetzt hab ich Angst, dass er sich vielleicht was angetan hat oder so.“

Mit wachsendem Entsetzen hörte ich zu, was Julian mir da sagte. Marius wollte sich umbringen? Weswegen denn? Julian brach nun vollends in Tränen aus. Ich ging zu ihm, legte ihm die Hände auf die Schultern und schüttelte ihn leicht.

„Hey, du musst mir jetzt sagen, was los ist!“ drang ich sofort energisch auf ihn ein. „Was ist gestern passiert? Warum denkst du, dass Marius sich vielleicht was antun will?“

„Timo hat uns gesehen“, antwortete Julian leise mit gesenktem Blick. Mittlerweile hatte er sein Schluchzen wieder einigermaßen im Griff.

„Wen hat Timo gesehen?“ fragte ich zurück.

„Marius und mich.“

„Ja, und weiter?“

„Marius wollte gerade gehen und als wir in der Haustür standen, hab ich Marius zum Abschied umarmt und genau da kam Timo auf dem Fahrrad an unserem Haus vorbei. Er wohnt überhaupt nicht in der Gegend. Keine Ahnung, warum er da vorbeigekommen ist. Jedenfalls hat er uns so gesehen und ganz überrascht geguckt und als ich das bemerkt hab, hab ich Marius ganz schnell wieder ins Haus gezogen und die Tür zugemacht und dann hab ich Marius gesagt, dass Timo uns gerade gesehen hat.“

Die Worte sprudelten jetzt nur so aus Julian heraus, machten für mich aber immer noch nicht wirklich Sinn. Dass Julian Angst vor Timo hatte, wunderte mich nicht. Timo war so ziemlich der homophobste Typ in unserem Jahrgang. Er war derjenige, der am meisten über Julian lästerte und ihn am heftigsten schikanierte. Ich hielt Timo ehrlich gesagt für ein ziemliches Arschloch, obwohl er auch in der Clique war, zu der Marius und ich gehörten. Schließlich bestand unsere Clique aus einer Menge Leuten, sodass zwangsläufig ein paar dabei waren, die sich gegenseitig eigentlich nicht ausstehen konnten.

Als ich Julians Worte einigermaßen verarbeitet hatte, tauchten in meinem Kopf so einige Fragen auf. Warum war Marius bei Julian zu Hause gewesen? Was wollte er dort? Außerdem hätte ich gerne gewusst, was Julian sich dabei dachte, Marius in den Arm zu nehmen. Und warum verdammt noch mal ließ Marius das zu?

Vorerst hielt ich mich aber zurück und wollte nur von Julian wissen: „Warum war Marius denn bei dir?“

Nach einigem Zögern antwortete mein Gegenüber: „Mit mir kann Marius eben über seine Probleme reden.“

Er sah mich dabei anklagend an, so als ob es eigentlich meine Aufgabe wäre, mich um Marius zu kümmern. Und irgendwie hatte er damit auch recht, schließlich bildete ich mir ein, Marius' bester Freund zu sein. Die Zahnräder in meinem Kopf drehten sich weiter. Mittlerweile hatte ich eine vage Vermutung, was Marius so verstört haben könnte, dass Julian sich nun so große Sorgen um ihn machte.

Ich teilte ihm mit, was ich mir zusammengereimt hatte: „Okay, dann hat Marius jetzt Angst, Timo könnte denken, dass er vielleicht … schwul ist?“

Julian nickte nur, nachdem er sich meine zögerliche Schlussfolgerung angehört hatte.

„Marius ist doch aber nicht wirklich schwul, oder?“ ergänzte ich, nachdem ich noch ein paar weitere Sekunden über die Sache nachgedacht hatte.

Eigentlich schien es mir gar nicht notwendig zu sein, diese Frage überhaupt zu stellen. Mein bester Kumpel war ganz sicher nicht schwul. Das konnte einfach nicht sein. Julian starrte mich aber nur an. Er nickte diesmal zwar nicht, schüttelte jedoch auch nicht den Kopf und sagte kein einziges Wort. Ein paar Sekunden lang blickten wir uns nur gegenseitig in die Augen.

„Marius ist schwul?“ entfuhr es mir plötzlich, halb ungläubig, halb überrascht.

Julian wandte seinen Blick wieder dem Boden zu und sagte leise und zögerlich: „Ich glaube, er sollte dir das lieber selber sagen.“

Eigentlich hatte Julian meine Frage damit aber bereits beantwortet und so wie er mir jetzt wieder in die Augen sah, wusste er selbst ebenfalls, dass die Sachlage für mich nun völlig klar war. Er schien auf eine Reaktion von mir zu warten. Wahrscheinlich wollte er sehen, wie ich mit dem neugewonnenen Wissen umging. Im Moment konnte ich aber einfach noch nicht für wahr halten, dass mein bester Freund wirklich schwul sein sollte. Ich dachte darüber nach, ob Julian mich vielleicht nur verarschen wollte. Er schien mir jedoch völlig glaubwürdig zu sein.

„Du willst mir jetzt aber nicht auch noch erzählen, dass ihr beide ...“, hakte ich nach, nachdem wir uns eine Weile angeschwiegen hatten, brachte den Satz aber nicht zu Ende.

Julian schüttelte sowieso schon heftig den Kopf und meinte leise: „Wir sind nur Freunde.“

Freunde. Wow! Ich hatte nicht mal gewusst, dass die beiden überhaupt schon jemals ein Wort miteinander gewechselt hatten. Dass Marius niemals verächtlich über Julian redete, geschweige denn ihn irgendwie demütigte, sondern eher wütend zu werden schien, wenn er etwas Derartiges mitbekam, hatte mich nie nachdenklich gemacht. Ich hatte einfach nur geglaubt, dass Marius eben ein anständiger Mensch war - ein anständigerer als ich selbst jedenfalls. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass die beiden sich näher kannten. Und schon gar nicht, dass mein bester Kumpel schw ...

„Wir müssen uns jetzt echt um Marius kümmern, okay?“ riss mich Julian aus meinen Gedanken. „Für ihn ist das alles sowieso schon ziemlich schwer. Und dann muss uns ausgerechnet auch noch Timo zusammen sehen. Das einzig Gute ist, dass der Marius gar nicht erkannt hat!“

„Was?“ rief ich aus. „Warum ist Marius dann überhaupt so ausgeflippt?“

„Weil er ja nicht wissen konnte, dass Timo ihn nicht erkannt hat! Heute Morgen hat Timo mich blöd angemacht und mich gefragt, wer denn der Typ sei, mit dem er mich gesehen hat, und ob das mein Lover wäre. Bis dahin hab ich ja auch geglaubt, dass Timo Marius erkannt hat. Seitdem bin ich mir aber ziemlich sicher, dass Timo wirklich keine Ahnung hat, dass es Marius war, den ich da gestern umarmt habe. So was würde Timo doch nicht für sich behalten, oder? Ich hab Marius danach natürlich sofort angerufen und ihm 'ne SMS geschickt, damit er keine Angst mehr haben muss, aber ich hab dir ja schon gesagt, dass sein Handy aus ist. Vielleicht kann er's ja gar nicht mehr einschalten, weil er schon tot ist!“

Damit brachte mich Julian schlagartig zur Besinnung. Sofort kehrte auch bei mir die Sorge um meinen besten Kumpel zurück. Wir mussten wirklich schleunigst handeln.

„Marius würde sich nie was antun“, versuchte ich Julian schnell zu beruhigen, der gerade wieder heftig schluchzte und ein paar Tränen vergoss. Ich war mir eigentlich sicher, dass seine Befürchtung, Marius könnte sich umbringen wollen, völlig übertrieben waren. Aber wie konnte ich das so genau wissen? Bisher hatte ich gedacht, ich würde meinen besten Freund gut kennen. Im Moment war ich mir aber alles andere als sicher, ob ich mit meiner Einschätzung richtig lag. Wahrscheinlich hatte sich Marius nach dem gestrigen Ereignis wirklich nur nicht in die Schule getraut, sich im Bett verkrochen, das Handy ausgeschaltet und die Türklingel ignoriert. Mehr als eine Vermutung war das aber nicht. Julian schien ich damit auch nicht überzeugen zu können. Ich legte ihm nochmals die Hände auf die Schultern, diesmal nicht so ruppig wie vorhin, sondern sanft und beruhigend. Ich sah ihm in die Augen und sagte: „Wir gehen in suchen, okay?“

Sofort schien ein Teil der Last von Julian abzufallen. Er war mit seiner Sorge um Marius nun nicht mehr allein.

„Komm schnell mit hoch!“ rief ich ihm zu, während ich selbst schon die Treppe hinauf ins Dachgeschoss spurtete. Ich blickte kurz zurück und sah, wie er sich noch schnell eine Träne aus dem Auge wischte, während er mir bereits langsam nach oben folgte.

Der Regen trommelte wie wild gegen die schräg stehenden Dachfenster, als ich mein Zimmer betrat. Er hatte mittlerweile nochmals deutlich an Stärke zugelegt. Normalerweise hätte man bei diesem Wetter keinen Hund vor die Tür gejagt. Julian und ich hatten aber keine andere Wahl, wenn wir uns auf die Suche nach Marius machen wollten. Ich öffnete meinen Kleiderschrank. Bis zum vergangenen Jahr war ich im Fußballverein gewesen und hatte in der B-Jugend gespielt. Aus dieser Zeit besaß ich noch eine Regenjacke aus schwarzem Nylon mit einem breiten gelben Streifen auf Brusthöhe. Auf dem Rücken befanden sich der Vereinsname und ein Werbeaufdruck irgendeines Sponsors. Ich hatte die Jacke kaum jemals benötigt und wusste daher nicht, wie wasserdicht sie war. Als ich sie vom Bügel genommen hatte, sah ich mich wieder nach Julian um. Der zögerte anscheinend noch, mein Reich zu betreten. Stattdessen war er draußen vor der offenstehenden Zimmertür mit seinem Handy beschäftigt.

„Wieder nur die Mailbox“, informierte er mich. Offensichtlich hatte er soeben erneut versucht, Marius zu erreichen. Ich winkte ihn herbei und reichte ihm die Jacke, die ich soeben aus dem Kleiderschrank gefischt hatte. Als er mich fragend ansah, deutete ich auf das Fenster, über das der Regen in dicken Strömen floss, und meinte: „Die wirst du brauchen.“

„Oh“, sagte er überrascht und griff nach dem Kleidungsstück. Anscheinend hatte er das Prasseln des Regens, das hier oben unter dem Dach eigentlich nicht zu überhören war, noch gar nicht wahrgenommen.

„Hör zu“, sagte ich, während ich mich wieder dem Schrank zuwandte. „Wir schauen zuerst nochmal an Marius' Haus vorbei. Da warst du zwar schon, vielleicht hat er aber einfach nur nicht aufgemacht.“

Als ich mich erneut nach Julian umsah, war der gerade damit beschäftigt, den Reißverschluss der Jacke einzufädeln, die ich ihm gegeben hatte. Er nickte zwar und gab einen zustimmenden Laut von sich, der klang allerdings so, als wäre er nicht besonders überzeugt von meinem Plan. Er schien sich ziemlich sicher zu sein, dass wir Marius nicht zu Hause antreffen würden.

„Wenn er da nicht ist, hab ich noch eine andere Idee, okay?“ fügte ich daher noch hinzu.

Inzwischen hatte ich einen hellgrauen Kapuzenpulli hervorgekramt und sogar eine zweite Regenjacke gefunden. Die Jacke war zwar aus ziemlich dünnem Nylon und machte keinen besonders wasserdichten Eindruck, als Ergänzung zum Hoodie würde sie aber hoffentlich ausreichen. Ich hatte sie im letzten Jahr bekommen, weil ich als Streckenposten bei einem überregional bekannten Triathlonwettbewerb mitgewirkt hatte. Sie war neongrün und hatte ebenfalls irgendeinen Werbeaufdruck. Weil es am Tag der Veranstaltung warm und trocken gewesen war, hatte ich sie damals aber nicht gebraucht und auch seither nie angezogen. Sie war sogar noch original in Plastikfolie eingeschweißt. Da ich meine Ausstattung nun beisammen hatte, zog ich schnell das karierte Hemd aus, das ich bisher offen über einem T-Shirt getragen hatte und schlüpfte in den Kapuzenpullover. Die Kapuze ließ ich gleich auf dem Kopf und schnürte sie mit der Kordel zu. Julian hatte den Reißverschluss seiner Regenjacke inzwischen geschlossen und stand unschlüssig herum.

„Die Jacke hat hinten im Kragen 'ne Kapuze drin, falls du die aufsetzen willst“, sagte ich zu ihm.

„Okay“, erwiderte er und griff mit einer Hand hinten am Nacken an den Jackenkragen, wo er sogleich einen Klettverschluss ertastete. Er öffnete ihn, fummelte die Kapuze heraus und zog sie sich ungeschickt über den Kopf. Ich selbst hatte diese Kapuze noch nie verwendet. Ein paar der anderen Jungs aus meiner Mannschaft hatten die Kapuzen ihrer Team-Regenjacken ein paar Mal aufgehabt und ich fand, dass sie damit ziemlich bescheuert aussahen. Ich nahm damals lieber eine nasse Frisur in Kauf, statt mir diesen Regenschutz über den Kopf zu ziehen. Heute hätte ich sie aber auch aufgesetzt, zumal meine Haare inzwischen länger waren und mir im nassen Zustand gerne mal die Sicht versperrten. Die Kapuze hatte einen Gummizug integriert, der den Stoff im Stirnbereich irgendwie komisch zusammenzog und Klettriegel, mit denen man sie vorne am Kinn schließen konnte. Diese Dinger hatte Julian auch bereits entdeckt. Er presste die beiden Klettverschlusshälften aufeinander, damit ihm die Kapuze nachher nicht vom Kopf rutschen konnte. Ich selbst hatte mittlerweile längst die Plastikfolie aufgerissen, mit der die grüne Regenjacke verpackt war, die Hülle achtlos fallen lassen und die Jacke hastig auseinandergefaltet.

„Lass uns gehen!“ forderte ich Julian auf und deutete in Richtung der Treppe. Während ich ihm die Stufen hinunter folgte, stellte ich fest, dass auch bei meiner zweiten Regenjacke eine Kapuze per Klettverschluss im Kragen versteckt war. Ich holte diese eilig dort heraus und schlüpfte erst dann in die Jacke. Auf der untersten Treppenstufe machte ich abrupt halt. Bei all der Hektik hatte ich nicht an alles gedacht.

„Mist, ich hab meine Schlüssel vergessen“, rief ich Julian zu. „Geh du schon mal raus!“

Ich machte also kehrt, rannte die Treppe wieder nach oben und schloss unterwegs den Reißverschluss der Jacke, die ich mittlerweile übergestreift hatte. Mit meinem Schlüssel war ich nur ein paar Sekunden später wieder auf dem Weg nach unten und sperrte in Windeseile die Haustür ab, nachdem ich auch noch in meine Sneakers geschlüpft war. Julian wartete unter dem Carport schon auf seinem Fahrrad. Mein eigenes Mountainbike musste ich erst noch aus dem Bretterverschlag holen, den mein Vater vor ein paar Jahren nicht ganz fachmännisch an die Seitenwand unseres Hauses gezimmert hatte. Bis ich dort angelangt war, hatte ich auch noch die Kapuze der Regenjacke über die Kapuze meines Sweatshirts gezogen. Ich spürte bereits die ersten Tropfen auf den Nylonstoff herunterprasseln. Im Gegensatz zur Kapuze von Julians Regenjacke hatte meine eine Kordel zum Zubinden. Ich beließ es aber dabei, die Kapuze mit der Kordel ein wenig enger zu ziehen. Genau wie die ganze Jacke fühlte sich auch die Kapuze ziemlich dünn an. Ich machte mir daher keine Illusionen, dass die zwei Kapuzen ausreichen würden, meinen Kopf auf Dauer trocken zu halten. Das spielte auch nicht wirklich eine Rolle. Mir war einzig und allein wichtig, dass wir Marius möglichst schnell fanden.

Wir kurvten auf unseren Rädern durch die schmalen Straßen der Wohnsiedlung, nahmen in voller Fahrt eine Abzweigung nach links, bogen dann wieder nach rechts ab. Die Enden der Kapuzenkordel meiner Regenjacke flatterten im Fahrtwind. Immer wieder musste ich an ihnen ziehen, damit mir die zweite Kapuze nicht vom Kopf geweht wurde. Obwohl ich meinen Blick meist nach unten auf die Fahrbahn richtete, sodass die von den Kapuzen geschützte Oberseite meines Kopfes die meisten Tropfen abbekam, klatschte mir kalter Regen ins Gesicht. Schon nach einer Minute waren meine Jeans im Oberschenkelbereich völlig durchgeweicht. Nach drei Minuten hatte ich das Gefühl, an so ziemlich allen Stellen unterhalb der Taille bis auf die Haut durchnässt zu sein. Glücklicherweise waren wir da auch schon fast am Haus von Marius angekommen.

Der Bereich vor der Haustür, wo wir auch unsere Räder abstellten, war überdacht, sodass wir endlich mal wieder im Trockenen standen. Trotzdem dachten weder Julian noch ich daran, uns unserer Kapuzen zu entledigen oder unsere Gesichter trocken zu wischen. Stattdessen erreichten unsere Daumen fast gleichzeitig den Klingelknopf. Abwechselnd drückten wir ihn mehrere Male, aber niemand öffnete. Die Eltern von Marius waren genau wie meine eigenen alle beide berufstätig und kamen meist erst am späten Nachmittag oder am frühen Abend nach Hause. Genau wie ich hatte er keine Geschwister, die uns die Türe hätten öffnen können. Als sich nach einer Minute im Haus immer noch nichts regte, lief ich die paar Meter zur Garage hinüber und spähte durch ein kleines Fenster ins Innere. Dass die beiden Autos seiner Eltern nicht da waren, wunderte mich nicht. Es interessierte mich auch nicht besonders. Aufschlussreicher fand ich, dass der Platz in der Ecke, wo Marius normalerweise seinen Motorroller abstellte, ebenfalls leer war. Diese Entdeckung überzeugte mich endgültig davon, dass Marius nicht im Haus war. Ich lief zurück zu Julian, der an der Haustür stehengeblieben war und dort weiter die Klingel malträtierte, und informierte ihn über meine neuesten Erkenntnisse.

„Kennst du die Kleingartensiedlung am Stadtrand?“ fragte ich ihn anschließend und deutete Richtung Südosten.

„Klar kenn ich die.“

„Die Eltern von Marius haben da so ein Grundstück mit so 'nem kleinen Häuschen drauf. Kann sein, dass Marius da ist.“

„Dann lass uns hinfahren!“

„Ist aber ziemlich weit bis dorthin“, wand ich ein. „Vier oder fünf Kilometer. Und wir sind jetzt schon tropfnass. Und ob er wirklich dort ist ...“

Ich beendete den Satz nicht und zuckte resigniert mit den Schultern. Julian sah mich unter der Kapuze hervor sofort ganz wütend an. Er brauchte gar nichts weiter zu sagen, allein sein Gesichtsausdruck genügte, um mich zum Einlenken zu bewegen.

„Also los“, sagte ich daher nur und stieg wieder aufs Rad. Ehe ich losfuhr tastete ich noch prüfend mit der Hand zwischen meine beiden Kapuzen. Die meines Sweatshirts fühlte sich wider Erwarten noch einigermaßen trocken an. Nur vorne an der Stirn war sie so richtig nass. Ich schüttelte noch kurz die Tropfen von der Regenjackenkapuze, bevor ich sie wieder festzurrte und diesmal sogar richtig zuband. Die Schleife, die ich in die Kordel gemacht hatte, rutschte mir anschließend beim Fahren zwar direkt vor den Mund, dies war aber nicht annähernd so unangenehm wie die nasse Kälte, die von meinen Beinen aus nach oben in meinen ganzen Körper kroch. Nach einer Weile spürte ich dann auch noch im Brustbereich und an den Armen, wie der Regen langsam meine Klamotten durchdrang. Ein paar Haarsträhnen waren mir ebenfalls aus den Kapuzen herausgerutscht und hingen klatschnass vor meinen Augen. Ich machte mir aber gar nicht erst die Mühe, sie wieder unter meine Kopfbedeckung zu stopfen, weil meine Hände am Lenker von dem kalten Regen mittlerweile völlig taub geworden waren. Julian klebte die ganze Zeit dicht an meinem Hinterreifen, obwohl ich eigentlich gedacht hatte, ich wäre der Sportlichere von uns beiden. Inzwischen keuchte ich aber bereits recht heftig und konnte das Tempo kaum noch aufrecht halten. Glücklicherweise fuhren wir mittlerweile auf einem Radweg und mussten nicht mehr auf den Autoverkehr achten, zumal uns bei diesem Wetter auch keine anderen Radler behinderten.

Rechts von uns tauchten dann endlich die ersten Kleingartenparzellen auf. Nach einigen weiteren Metern bog ich mit Julian im Schlepptau in eine schmale Gasse ab und hielt schließlich vor einem Gartentürchen aus Metallgitter an. Julian war sofort vom Rad gesprungen und deutete auf das Holzhaus, das in etwa fünfzehn Metern Entfernung auf dem Grundstück stand.

„Ist es das hier?“ wollte er wissen.

Nachdem ich seine Frage bejaht hatte, riss er auch schon das Tor auf und rannte auf das kleine Gebäude zu. Während ich noch Bedenken hatte, ihm zu folgen, weil ich insgeheim tatsächlich befürchtete, wir könnten Marius vielleicht tot in diesem Haus vorfinden, pochte er schon kräftig gegen die Tür und schrie: „Marius? Marius? Bist du da drinnen?“

Ich nahm all meinen Mut zusammen und folgte ihm zögerlich auf das Grundstück. Als ich mich Julian bis auf zwei oder drei Meter genähert hatte, drehte er sich zu mir um.

„Da drinnen ist jemand“, sagte er mit einem irgendwie erleichterten Ausdruck auf dem Gesicht. „Ich hör irgendwelche Geräusche.“

Ich deutete auf eine kleine Satellitenschüssel unterhalb der Dachrinne und erwiderte: „Da drinnen gibt’s 'nen Fernseher.“

Plötzlich schien es mir ziemlich wahrscheinlich zu sein, dass wir Marius hier wirklich vorfinden würden. Als ich dann auch noch seinen Motorroller entdeckte, der etwas versteckt hinter einer sauber geschnittenen Hecke abgestellt war, war ich mir sogar völlig sicher. Die Geräusche aus dem Haus bedeuteten aber nicht zwangsläufig, dass Marius unversehrt und am Leben war. Julian schien das auch so zu sehen, denn sein Gesicht spiegelte nun wieder Furcht und Anspannung wider. Dass Marius auf das laute Klopfen überhaupt nicht reagierte, beunruhigte mich ebenso sehr wie ihn.

Zögerlich drückte Julian die Klinke nach unten und stellte schließlich fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Nachdem er sie einen Spalt geöffnet hatte, spähte er in den Raum hinein. Eine Sekunde später riss er die Tür vollends auf und stürmte nach innen. Ich hatte Hemmungen, ihm zu folgen, konnte von meiner Position aus aber deutlich beobachten, wie Julian sich drinnen die Kapuze vom Kopf riss und in Windeseile aus der nassen Regenjacke schlüpfte. Er warf sie achtlos zur Seite und kniete sich dann zwischen dem niedrigen Tisch und der Couch, die an der Rückseite des Raumes standen, auf den Boden. Da wir hier bereits einige Grillpartys gefeiert hatten, waren mir die Räumlichkeiten und das Mobiliar sofort wieder vertraut. Ich trat ein paar Schritte näher, blieb aber einen knappen Meter vor der Eingangstür erneut stehen. Drinnen war es ziemlich dunkel, weil sämtliche Fensterläden geschlossen waren. Über dem Tisch hing zwar eine Lampe, die war aber nicht eingeschaltet. Daher sorgte nur der TV-Bildschirm und das Licht, das durch die geöffnete Tür nach innen fiel, für ein wenig Helligkeit. Trotz alledem konnte ich sehen, dass auf der Couch eine Person unter einer Decke lag. Ich glaubte sogar zu erkennen, dass die Decke sich ganz leicht hob und senkte. Wahrscheinlich bildete ich mir das wegen der ständigen Lichtwechsel, die vom Fernsehbild verursacht wurden, aber nur ein. Ich wagte wohl einfach nur nicht daran zu denken, dass die Person, bei der es sich nur um Marius handeln konnte, vielleicht gar nicht mehr atmete.

Julian strich inzwischen zärtlich über den zugedeckten Körper. Ich konnte hören, wie er mehrmals Marius' Namen aussprach und ihn immer wieder fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Ich nahm unter der Decke aber keinerlei Bewegung war. Der Fernseher und das Prasseln des Regens übertönten Julians Worte, sodass ich manches, was er sagte, nicht richtig verstand. Ich hatte kein Gefühl dafür, wie lange ich so dastand und den Atem anhielt. Wahrscheinlich vergingen nur ein paar Sekunden, bis die Person auf der Couch sich doch endlich zu regen begann. Dann hörte ich auch schon ein Grummeln und wenige Augenblicke später ertönte eine verschlafene Stimme unter der Decke hervor. Ich spürte, wie mir vor Erleichterung ein Stein vom Herzen fiel. Trotzdem blieb ich, wo ich war, trat sogar einen Schritt zur Seite und lehnte mich mit einem Seufzen draußen neben der Tür an die Wand. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte. Ich wusste aber nicht, ob das an der Aufregung lag oder an der Kälte, die von meiner durchnässten Kleidung ausging. Trotz aller Freude darüber, dass Marius offenbar nur geschlafen hatte, war ich unsicher, wie ich mich nun verhalten sollte. Da war mein bester Freund, von dem ich seit weniger als einer Stunde wusste, dass er schwul war. Es kam mir aber so vor, als läge dort drinnen ein völlig Fremder, irgendjemand, den ich überhaupt nicht kannte.

Der vermeintlich Fremde schien langsam munterer zu werden. Ich konnte seine - zunächst eher einsilbigen - Antworten von hier draußen wegen der Umgebungsgeräusche aber weiterhin kaum verstehen. Zunächst wollte Julian anscheinend sichergehen, dass mit Marius wirklich alles in Ordnung war. Er fragte ihn, ob er so fest geschlafen hätte, dass er das laute Klopfen an der Tür nicht gehört hatte. Aus den Wortfetzen, die ich von der Antwort aufschnappen konnte, reimte ich mir zusammen, dass Marius wohl die ganze vorherige Nacht kein Auge zugemacht hatte und morgens hierhergekommen war, statt zur Schule zu gehen. Irgendwann hatte dann wohl die Müdigkeit gesiegt und er war vor dem Fernseher eingeschlafen. Meine Vermutung, dass er sich nach dem gestrigen Vorfall einfach nur nicht in die Schule getraut hatte, war also richtig gewesen. Ich war ein wenig stolz darauf, dass ich Marius anscheinend doch besser einschätzen konnte als Julian, der sofort ganz hysterisch vom Schlimmsten ausgegangen war.

Als drinnen das TV-Gerät abgeschaltet worden war, konnte ich das Gespräch der beiden Jungs besser verstehen. Weil ich die mir so vertraute Stimme von Marius nun deutlicher hörte, begann das Gefühl, dass dort drinnen ein Fremder lag, langsam zu verschwinden.

Ich hörte, wie er Julian fragte: „Wie hast du mich überhaupt hier gefunden? Hab ich dir mal erzählt, dass meine Eltern hier den Garten haben?“

„Nee, Lennart hat mir gesagt, dass du vielleicht hier bist.“

„Lenny?“

Ich war mir nicht sicher, ob ich aus Marius' Stimme, als er meinen Namen aussprach, nur Überraschung oder auch Furcht heraushörte. Hatte er vor mir, seinem besten Kumpel, etwa Angst? Unruhig wartete ich darauf, wie die Konversation der beiden weiterging.

„Hör zu, Lennart weiß, dass du schwul bist“, sagte Julian mit beschwichtigender Stimme.

„Timo hat's heute wahrscheinlich allen in der Schule erzählt, oder?“ antwortete Marius resigniert.

„Nein, der hat dich gestern doch gar nicht erkannt!“

„Echt?“ rief Marius sofort erleichtert aus.

„Ja, wenn du dein Handy anhättest, dann wüsstest du das längst. Ich hab dir zigmal auf die Mailbox gesprochen und massenweise SMS geschickt!“

„Mann, ich hab halt gedacht, da sind jetzt lauter blöde Nachrichten von allen möglichen Leuten drauf, die mich als Schwuchtel beschimpfen. Ich hab mich einfach nicht getraut, es einzuschalten.“

Für eine Weile hörte sich Marius fast fröhlich an, dann wurde er aber wieder ernst.

„Und woher weiß Lenny es dann?“ wollte er plötzlich wissen. „Hast du's ihm gesagt?“

Marius schien jetzt fast sauer auf Julian zu sein. Ich dachte darüber nach, ob ich endlich hineingehen sollte, um meinem Freund zu sagen, dass alles in Ordnung war. Dass ich kein Problem damit hatte, dass er schwul war. Dass er immer noch mein bester Kumpel war. Ich war mir aber nicht sicher, ob ich ihn damit nicht anlog. Daher blieb ich an meinem Platz und hoffte, dass Julian in der Lage war, Marius wieder zu beruhigen. Ich bekam nicht genau mit, wie er auf die Fragen von Marius reagierte. Julian sparte sich jedenfalls eine längere Erläuterung der Zwangslage, in der er sich befunden hatte, und erklärte Marius nicht, dass ich ihn so lange mit Fragen gelöchert hatte, bis er nicht mehr anders konnte, als mir indirekt die Wahrheit zu offenbaren.

Das nächste, was ich wieder deutlich hörte, war eine Frage von Marius: „Lenny hat ein Problem damit, dass ich schwul bin, oder?“

„Ich weiß nicht“, antwortete Julian unsicher nach kurzem Zögern.

„Natürlich hat er ein Problem damit, sonst wäre er doch selbst hergekommen.“

Ich hörte ganz deutlich das Zittern in Marius' Stimme. Er schien kurz davor zu sein, in Tränen auszubrechen. Da spürte ich plötzlich, wie nahe es mir ging, dass er so niedergeschlagen war. Spontan trat ich in die Tür. Julian hockte immer noch direkt vor Marius auf dem Boden und versperrte meinem Kumpel und mir die Sicht auf den jeweils Anderen. Ohne das Licht des Fernsehers war in dem Raum ohnehin kaum noch etwas zu erkennen. Ich tastete daher nach dem Lichtschalter. Sofort wurde es deutlich heller im Zimmer.

„Ich bin doch mitgekommen“, sagte ich im selben Moment, laut genug, dass Marius es deutlich hören konnte.

Der setzte sich abrupt auf und starrte mich überrascht an. Ich entdeckte ein paar Tränen unter seinen Augen. Trotzdem breitete sich auf seinem Gesicht plötzlich ein breites Grinsen aus. Ich begriff zuerst nicht, was diesen abrupten Stimmungswandel verursacht hatte. Erst als er sagte: „Mensch Lenny, wie siehst du denn aus?“ wurde mir klar, dass ich immer noch in der leuchtend grünen Regenjacke steckte und zwei fest verschnürte Kapuzen übereinander auf dem Kopf hatte. Die Schleife, die ich in die Kordel der Regenjackenkapuze gebunden hatte, hing schief vor meinem Kinn, direkt unterhalb der Unterlippe, und kitzelte meinen linken Mundwinkel. Wegen all der Aufregung hatte ich das bisher überhaupt nicht wahrgenommen. Als ich meine Stirn betastete, stellte ich fest, dass die graue Sweatshirtkapuze dort nicht völlig unter der grünen Kapuze der Regenjacke versteckt war, sondern ein Stück darunter hervorlugte. In meiner Aufmachung sah ich mit Sicherheit total bescheuert aus. Als mir das klar wurde, brach ich in schallendes Gelächter aus. Ich ließ mich in den alten Sessel fallen, der der Couch gegenüberstand und krümmte mich vor Lachen zusammen. Marius prustete ebenfalls los, allein Julian verdrehte zunächst nur die Augen. Dann konnte aber auch er nicht mehr an sich halten.


Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Kratzen im Hals auf. Ich warf einen verschlafenen Blick auf die leuchtenden Ziffern meines Weckers. Er würde erst in einer knappen halben Stunde piepen. Je länger ich wach lag, desto schlechter fühlte ich mich. Die Fahrt durch den Regen war mir anscheinend nicht besonders gut bekommen, zumal ich danach noch ganz schön lange in meinen völlig durchnässten Klamotten hatte ausharren müssen. Ich befürchtete, mir eine heftige Erkältung eingefangen zu haben. Nachdem ich mich aus dem Bett gerollt hatte und schwankend zur Zimmertür gelaufen war, sah ich nach unten ins Erdgeschoss. Dort brannte bereits Licht, also trabte ich kurz hinunter, um meinen Eltern mitzuteilen, dass an einen Schulbesuch an diesem Tag nicht zu denken war. Zurück im Dachgeschoss schrieb ich eine kurze SMS an Marius: „Bin krank! Kann nicht in die Schule! Kommst du ohne mich klar? LG, Lenny.“

Danach schaltete ich meinen Wecker ab und kroch wieder ins Bett. Ehe eine Antwort auf meine Kurznachricht kam, war ich bereits wieder eingeschlafen. Ich musste mir um meinen besten Freund ja keine Sorgen mehr machen. Das Problem mit Timo hatte sich schließlich in Luft aufgelöst.

Irgendwann weckte mich dann der Klingelton meines Handys. Ich tastete danach und meldete mich mit rauer Stimme.

Ich hörte Marius sagen: „He, wie geht’s dir?“ und krächzte ein „Bin total erkältet!“ zurück.

Mein Wecker zeigte 10:22 Uhr an. In der Schule fand gerade die große Pause statt.

„Ich wollte dir nur schnell sagen, dass hier alles in Ordnung ist. Keine Probleme mit Timo oder so. Er erzählt zwar überall rum, dass Julian jetzt 'nen Lover hat, das stört Julian aber nicht besonders. Er ist immer noch total erleichtert, weil mir nichts passiert ist.“

Erleichterung war auch immer noch aus Marius' Stimme herauszuhören. Er hatte mir am Tag zuvor im Gartenhäuschen seiner Eltern erklärt, dass er eigentlich noch nicht dazu bereit war, sich zu outen, vor allem weil er täglich mit ansehen musste, wie fies Julian behandelt wurde. Er meinte, er selbst würde das nicht aushalten. Er hatte sich auch immer fürchterlich geschämt, weil er sich nie richtig für Julian eingesetzt hatte. Unter vier Augen hatte er sich dafür mal bei ihm entschuldigt. Das war jetzt etwa drei Wochen her. Seitdem hatten sich die beiden heimlich angefreundet. Schon nach kürzester Zeit hatte Marius dann so viel Vertrauen zu Julian gefasst, dass er ihm seine eigene Homosexualität gestand.

Ich hatte Marius gestern versichert, dass ich zu ihm stehen würde, egal was passierte, und dass sein Geheimnis bei mir sicher war, solange er nicht wollte, dass andere ebenfalls davon erfuhren. Dass wir immer noch beste Freunde waren, hatte ich ihm ebenfalls beteuert. Und das hatte ich hundertprozentig ernst gemeint. Eigentlich hätte ich ja ein wenig sauer auf ihn sein müssen, weil er mir als seinem besten Freund nicht stärker vertraut hatte. Sogar Julians Freundinnen hatten vor mir von Marius' Schwulsein erfahren. Wenn er die für verlässlicher hielt als mich, indem er zugelassen hatte, dass Julian sie mit ins Vertrauen zog, musste ich selbst aber wohl in der Vergangenheit irgendwie Mist gebaut haben. Ich hatte mir jedenfalls fest vorgenommen, in Zukunft alles besser zu machen, und mich auch gleich bei Julian dafür entschuldigt, dass ich ihn bisher nicht anständiger behandelt hatte. Statt in Betracht zu ziehen, in irgendeiner Art für ihn einzutreten, hatte ich manchmal sogar beim Mobbing mitgemacht. Damit hatte ich wohl auch Marius ziemlich verletzt. Ich rechnete ihm daher hoch an, dass er die enge Freundschaft mit mir trotzdem immer aufrecht erhalten hatte.

Nachdem wir unser Telefonat beendet hatten, fragte ich mich, ob sich zwischen ihm und Julian vielleicht doch mehr entwickelte als nur Freundschaft. Vor 24 Stunden hätte mich so ein Gedanke noch völlig schockiert. Ich musste zwar zugeben, dass ich mich mit dieser Idee immer noch nicht richtig anfreunden konnte, richtig abschreckend fand ich sie aber auch nicht mehr. Eigentlich war Julian nämlich ganz okay. Trotzdem durfte ich auf keinen Fall zulassen, dass er mir meinen Rang als Marius' bester Kumpel streitig machte. Dann sollte er schon lieber sein Boyfriend werden.

Ich überlegte noch eine paar Minuten, was sich in Zukunft alles ändern würde und was ich selbst dazu beitragen konnte, um das Leben für Marius und Julian einfacher zu machen. Mir wurde dabei zufällig sogar klar, dass ich eine von Julians Freundinnen eigentlich doch ganz attraktiv fand. Vielleicht ergab sich ja was mit ihr, wenn das mit Franziska und mir doch nicht klappte. Am Ende schlief ich aber noch einmal für ein Weilchen ein.

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