Winterregen (Weirdos) - Eine Story von Robin

 

Prolog

Es war einmal an einem Morgen im November oder Dezember. Die erste Klasse stand mit ihrer Lehrerin im strömenden Regen vor der Schule und wartete auf den Bus. Es sollte der erste Schulausflug für die kleinen ABC-Schützen werden. Überall waren Regenschirme aufgespannt, und die wenigen, die unter diesen keinen Platz fanden, hatten eben ihre Mützen aufgesetzt. Nur ein kleiner Junge stand ungeschützt im Regen. Langsam wurden seine Haare nass. Seine Mutter hatte ihm zwar eine Wollmütze mitgegeben, aber die war irgendwo tief unten in dem Rucksack verstaut, den er auf dem Rücken trug. Naja, der Bus würde ja hoffentlich gleich kommen.

»Hast du keine Mütze? Du wirst doch ganz nass«, hörte er auf einmal eine Stimme hinter sich. Es war die Stimme seiner Lehrerin.

»Doch, da hinten«, antwortete der kleine Junge und deutete dabei mit dem Zeigefinger nach hinten über seine Schulter in Richtung des Rucksacks.

Eigentlich hatte er erwartet, dass seine Lehrerin nun die Schnallen des Rucksacks öffnen würde, doch irgendetwas schien sie missverstanden zu haben, denn plötzlich spürte er ihre Hand dicht hinter seinem Nacken.

»Halt! Nein! Stopp!« wollte er noch schreien, aber da war es bereits zu spät. Die Lehrerin hatte bereits die dünne Kapuze in der Hand, die innen in seiner Winterjacke angenäht war, und zog diese heraus. Hey, die wollte er aber nicht aufsetzen! Seine Freunde hatten auch keine so komischen Kapuzen auf! Leider spürte er bereits, wie ihm die Lehrerin den dünnen Fetzen Stoff über den Kopf zog. Irgendwie war ihm die ganze Situation furchtbar unangenehm. Am liebsten wäre er im Boden versunken. Wo blieb denn nur dieser blöde Bus?

Für den kleinen Jungen schien es eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis das große Fahrzeug endlich um die Ecke bog und vor der Gruppe anhielt. Nachdem der Fahrer die Türe geöffnet hatte, war der Junge einer der ersten, die sich in den Bus drängelten. Erleichtert schob er sich die Kapuze vom Kopf, als er die erste Stufe erklomm. Jetzt fühlte er sich besser. Naja, zumindest solange, bis dann später während der Fahrt zwei Sitzreihen hinter ihm einer seiner Mitschüler den Bus voll kotzte. Mann, war das eklig! Aber das hat nun wirklich überhaupt nichts mehr mit der folgenden Geschichte zu tun.

 

Kapitel 1 - Die Ankunft

Wir waren bereits eine gute Stunde unterwegs und hatten ungefähr 100 Kilometer zurückgelegt, als mein Vater durch die Windschutzscheibe auf ein Schild am linken Straßenrand deutete und mir mitteilte, dass wir nun am Ziel wären. Ich war die ganze Zeit über zusammengekauert auf dem Beifahrersitz gesessen und sank nun noch tiefer in das weiche edle Leder ein. Mein Vater setzte den Blinker und brachte seinen dicken BMW zum Stehen, um den Gegenverkehr passieren zu lassen. Ich blicke an seinem Kopf vorbei durch das linke Seitenfenster. Einige Baumreihen säumten den Straßenrand. Das in einiger Entfernung dahinter aufragende weiße Gebäude war durch die dichte Bepflanzung von der Straße aus nur schemenhaft zu erkennen, obwohl die Laubbäume um diese Jahreszeit kahl waren. Als die Autos auf der Gegenfahrbahn endlich an uns vorbei waren, bog mein Vater in die gepflasterte Einfahrt ein und wir erreichten nach einigen Metern einen großzügig angelegten Parkplatz. Zwischen den einzelnen Parkreihen wucherte eine üppige Bepflanzung aus Bäumen und Büschen, die jetzt im Winter allesamt hässlich braun waren. Erst als wir einen Teil der Bäume passiert hatten und näher an das Gebäude herangekommen waren, konnte ich einen genaueren Blick auf das weit ausladende vierstöckige Bauwerk werfen. Ein dreistöckiger Seitenflügel knickte in einem leichten Winkel vom Hauptgebäude ab. Die Balkone vor den Fenstern wiesen darauf hin, dass sich hier wohl vor allem Patientenzimmer befanden.

'Psychosomatische Klinik Bad Neuheim' hatte auf dem Schild am Straßenrand gestanden. Hier war ich also nun. Immer wieder hatte ich mich während der Fahrt gefragt, was nur mit mir geschehen war, dass ich jetzt diesen Klinikaufenthalt nötig hatte. Es war der deprimierendste Dienstag meines Lebens. Mir war zum Heulen zumute, und wenn meine Mutter mitgekommen wäre, hätte ich mich ihr jetzt vielleicht sogar um den Hals geworfen und trotz meines Alters von 19 Jahren hemmungslos losgeschluchzt. So war ich froh, dass ich sie davon überzeugt hatte, daheim zu bleiben. Mein Vater würde ohnehin gleich wieder zurückfahren müssen, da mal wieder in letzter Minute ein wichtiger Geschäftstermin dazwischen gekommen war. Eigentlich hätte ich erst um 14 Uhr in der Klinik sein müssen, aber ein Essen mit einem wichtigen Kunden zwang meinen Vater dazu, mich bereits vormittags um zehn hier abzuliefern. Sein Job als Inhaber einer renommierten Werbeagentur machte es ihm oft schwer, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Ich hatte ihm das bisher nur selten übel genommen, da er ansonsten ein sehr lieber und verständnisvoller Mensch war und mir erst recht seit dem Beginn meiner Probleme unglaublich geholfen hatte. So fand ich mich auch heute klaglos damit ab, vier Stunden früher als geplant meine gewohnte Umgebung verlassen zu müssen. Ich würde hier ohnehin einige Wochen verbringen, auf ein paar Stunden mehr oder weniger kam es also nicht an.

Mein Vater lenkte sein Auto in eine freie Parkbucht nahe am Haupteingang der Klinik und stellte den Motor ab. Er blickte aufmunternd zu mir herüber und klopfte mir auf die Schulter.

»Du wirst schon sehen, wird sicher ganz nett hier«, meinte er.

»Du hast leicht reden, du musst schließlich nicht hier bleiben.«

Wir öffneten die Sicherheitsgurte und stiegen gemächlich aus. Die kalte Januarluft durchdrang sofort mein dünnes Shirt und ließ mich frösteln. An einigen Stellen lagen Schneereste. Schnell öffnete ich die hintere Fahrzeugtüre und holte meine dicke schwarze Daunenjacke vom Rücksitz, während mein Vater von der anderen Seite aus nach seinem Mantel griff. Während ich in meine Jacke schlüpfte, entdeckte ich unter dem Dach vor der großen gläsernen Doppelschwingtüre des Haupteingangs zwei kleine Wägelchen, die wohl zum Transport des Gepäcks auf die Zimmer bestimmt waren.

»Da sind Karren für das Gepäck«, sagte ich. »Ich geh mal eine holen.«

Ich lief die zehn Meter bis zum Eingang hinüber und griff nach einem der Wagen. Bei dieser Gelegenheit warf ich gleich einen ersten Blick durch die großzügige Verglasung der Eingangshalle. Auf der rechten Seite hinter der großen Glastür befand sich eine Art Rezeption, ähnlich wie in einem Hotel. Gegenüber entdeckte ich mehrere Sitzgruppen und Tische mit sauber gestapelten Zeitschriften. Einige vorwiegend ältere Herrschaften saßen sich an einem der Tische gegenüber und schienen sich angeregt zu unterhalten. Mit meinen 19 Jahren kam ich mir hier sofort etwas deplaziert vor und hoffte sehnlichst, dass es hier auch noch andere in meinem Alter gab.

Als ich mit dem Wagen zurück am Auto war, hatte mein Vater bereits den Kofferraum geöffnet und die zwei großen Koffer herausgehoben. Ich hoffte, darin genügend Klamotten für die nächsten Wochen eingepackt zu haben. Ich hievte die Koffer auf die Gepäckkarre. Mein Vater stellte noch einige Taschen und Tüten dazu.

»Soll ich noch mit hinein kommen?« fragte er, nachdem er den Kofferraum wieder zugeschlagen hatte.

»Ach nein, lass nur«, antwortete ich. »Schau lieber, dass du zu deinem Termin nicht zu spät kommst.«

Er lächelte mir wieder aufmunternd zu und reichte mir die Hand. Als wir uns die Hände schüttelten hatte ich Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Er schien dies zu bemerken und nahm mich in die Arme. Eine halbe Minute standen wir da und umarmten uns. Ein paar Tränen liefen mir aus den Augenwinkeln, aber immerhin konnte ich es vermeiden loszuschluchzen. Als er mich wieder losgelassen hatte und die Tränen entdeckte, die mir die Wangen herunterliefen, lächelte er mich an und klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter.

»Du schaffst das hier schon, David. Alles halb so wild.«

Ich wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und lächelte gequält zurück.

»Weiß ich doch«, antwortete ich. »Ist nur 'ne beschissene Situation am Anfang.«

Er drückte mir nochmals die Hand und stieg dann mit einem »Mach's gut, David« zurück in sein Auto. Als er den Wagen aus der Parkbucht steuerte, winkte er mir nochmals lächelnd zu. Ich winkte zurück und sah ihm nach, wie er mit seinem Auto langsam hinter den Bäumen und Büschen verschwand und das Motorengeräusch immer schwächer wurde.

Als das Fahrzeug schließlich ganz aus meinem Blickfeld verschwunden war, atmete ich tief durch, griff nach dem Gepäckwagen und schob ihn langsam vor mir her auf den Eingang zu. Die Tür schwang automatisch nach außen, als ich mich ihr bis auf ein paar Meter genähert hatte. Eine zweite Schwingtüre wenige Meter hinter der ersten verhinderte, dass die kalte Winterluft in die große Eingangshalle dringen konnte. Auch diese Türe öffnete sich automatisch und ließ mich mit meinem Gepäck problemlos passieren. Vor der Theke der Rezeption blieb ich stehen. Eine junge Dame mit schwarzen Haaren und Brille, die an einem Tisch einige Meter hinter der Theke vor einem Bildschirm gesessen hatte, blickte auf und kam freundlich lächelnd auf mich zu.

»Guten Morgen, Sie sind aber früh hier«, begrüßte sie mich.

Ich grüßte zurück und reagierte auf Ihre Bemerkung mit einem hilflosen Schulterzucken.

»Wie heißen Sie?« fragte Sie höflich.

»David Kranitz«, erwiderte ich.

Sie überflog eine Liste und entdeckte nach kurzer Zeit meinen Namen darauf.

»Ah ja, Herr Kranitz. Schön, dass Sie hier sind. Dann darf ich Sie erst einmal recht herzlich hier in der Klinik in Bad Neuheim begrüßen und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

»Hmm, ja, danke«, murmelte ich zurück.

Sie reichte mir einen Schlüssel.

»Das ist Ihr Zimmerschlüssel. Sie haben Zimmer 213, das ist oben im zweiten Stock. Wenn Sie aus dem Aufzug kommen nach rechts, ziemlich weit hinten im Seitenflügel.«

»Okay, werd ich schon finden«, antwortete ich.

»Der Patient, der mit Ihnen das Zimmer teilt, ist noch nicht eingetroffen. Sie können also erst einmal in Ruhe alleine auspacken.«

Anschließend erklärte sie mir noch den weiteren Tagesablauf und gab mir einen Merkzettel mit den entsprechenden Uhrzeiten. Um 15 Uhr war das erste Treffen meiner Therapiegruppe, zwei Stunden später die Begrüßung durch den Chefarzt. Ab 18 Uhr war der Speisesaal für das Abendessen geöffnet. Ein Mittagessen hätte ich auch bekommen können, verzichtete aber gerne darauf. Mir war erst einmal gründlich der Appetit vergangen.

Ich griff nach dem Wagen mit meinem Gepäck und schob ihn zum Aufzug. Seit einiger Zeit machten auch Aufzüge mich nervös. Meine Angst- und Panikattacken hatten zwar nichts mit Aufzügen oder anderen engen Räumen zu tun, aber ich wusste inzwischen, dass dies bei vielen anderen Angstpatienten der Fall war. In den letzten Monaten hatte ich mich intensiv mit Angsterkrankungen beschäftigt und einige Bücher zu diesem Thema gelesen. Viele Situationen, die bei anderen Menschen Panikattacken auslösten, waren mir deshalb bestens bekannt und erinnerten mich jetzt jedes Mal an meine eigenen Probleme.

Ich drückte auf den Fahrstuhlknopf und hörte den Aufzug herunterfahren. Nach wenigen Momenten öffnete sich die Tür und ich schob meinen Wagen hinein. Eine zierliche ältere Dame war in der Zwischenzeit neben mich getreten und betrat hinter mir den Aufzug.

»Aha, Sie sind also einer von den Neuankömmlingen«, sagte sie, als ich den Knopf für den zweiten Stock drückte. Ich schätzte Sie auf Ende 60 oder Anfang 70.

»Ja«, erwiderte ich knapp.

»Wird Ihnen sicher gefallen hier, wenn Sie sich erst einmal eingelebt haben«, fuhr sie fort.

»Naja, da bin ich mir noch nicht so sicher«, gab ich schüchtern zurück.

Sie lachte und sagte: »Ach, als ich hier angekommen bin, ging's mir genauso.«

Wir waren inzwischen im zweiten Stock angekommen und die Fahrstuhltüre öffnete sich.

»Ich muss noch einen Stock höher«, sagte die Frau und trat zur Seite, so dass ich meinen Wagen an ihr vorbei aus dem Aufzug ziehen konnte. Wir nickten uns noch kurz zu, als sich die Türe bereits wieder schloss.

Ich atmete noch einmal tief durch und setzte mein Gepäck wieder in Bewegung. Die Rollen des kleinen Koffertransporters gaben sofort ein widerliches Quietschen von sich.

Vor dem Aufzug befand sich ein größerer Vorraum. Hinter einer der wenigen Türen an der gegenüberliegenden Wand waren Stimmen zu hören. Anscheinend fand hier gerade eine Gruppensitzung statt. Der Vorraum mündete in einen schmalen Gang, der endlos lang zu sein schien. Beim Übergang in den Seitenflügel machte er einen leichten Knick. Hier befand sich auch eine Nische mit einer Sitzecke, die im Moment allerdings verwaist war. Mehrere Fenster ermöglichten den Blick auf den Bereich hinter der Klinik. Ich hielt kurz inne und blickte hinaus. Auf der linken Seite erstreckte sich ein Waldgebiet, auf der rechten Seite lag ein kleiner, zugefrorener See. Einige hundert Meter hinter diesem waren die ersten Häuser von Bad Neuheim zu sehen. Die Klinik lag etwas außerhalb des kleinen Kurortes. Auf dem weitläufigen Areal vor der Klinik spazierten einige Menschen herum, wahrscheinlich Patienten. Die meisten waren dick eingepackt in Wintermäntel, Schals und Mützen. Als ich eine Weile hinausgesehen hatte, hörte ich eine Stimme hinter mir: »Hi, bist du auch einer von den Neuen?«

Erschrocken drehte ich mich um. Vor mir stand eine junge Frau, naja, eher noch ein Mädchen. Man konnte ihr unschwer ansehen, warum sie hier war. Sie bestand fast nur aus Haut und Knochen. Bisher hatte ich noch nie eine Anorexiekranke in natura gesehen. Im ersten Moment verschlug es mir deshalb bei ihrem Anblick die Sprache.

»Hallo! Ja, ich bin gerade angekommen«, erwiderte ich nach einer auffällig langen Pause.

Sie gab mir Ihre Hand.

»Ich bin Nadine«, sagte sie.

»Ich bin David.«

»Schau mal auf deinem Zettel nach, ob wir in derselben Gruppe sind«, forderte sie mich auf. »Ich bin in Gruppe 2C.«

Ich kramte in der Innentasche meiner Daunenjacke nach dem Zettel, den ich an der Rezeption erhalten hatte.

»Ja, ich bin auch in 2C«, erwiderte ich, nachdem ich einen Blick auf das Blatt geworfen hatte.

»Hey, das ist ja toll. Endlich mal ein männliches Wesen mit mir in einer Gruppe.«

»Hast du so was schon öfter mitgemacht?« fragte ich erstaunt.

»Ja, ist glaube ich das vierte Mal, dass ich in so einer Klinik bin. Bin schon seit einer Stunde hier. So lerne ich die Leute gleich alle kennen, wenn sie ankommen. Ist doch toll, oder?«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und lächelte verlegen zurück. Für Nadine schien der Aufenthalt in dieser Klinik beinahe Alltag zu sein, für mich dagegen war es völlig neu und irgendwie beängstigend. Ich fühlte mich jetzt noch mehr verunsichert, als vor der Begegnung mit ihr.

»Du bist das erste mal in so einer Psycho-Klinik, oder?« fragte sie.

Ich nickte nur. Sie grinste mir ins Gesicht.

»Keine Sorge, ist ganz lustig hier«, sagte sie fröhlich.

Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte.

»Naja, ich geh jetzt erst mal auspacken«, brachte ich schließlich heraus und griff nach dem Gepäckwagen.

»Na dann, bis später«, rief sie mir nach und setzte ihren Weg in Richtung Aufzug fort, während ich mein Gepäck weiter in die entgegengesetzte Richtung durch den Gang schob.

Mein Zimmer befand sich auf der linken Seite und war das vorletzte im Gang. Ich schloss die Tür auf und schaute hinein. Das Zimmer sah recht gemütlich aus und glich eher einem Hotelzimmer als einem Krankenhauszimmer. Naja, das hier war schließlich auch eine Kurklinik. Den Boden bedeckte ein schlichter grauer Teppich, die Wände waren weiß gestrichen. Rechts hinter einer Tür befand sich der weiß geflieste Duschraum mit Waschbecken und Toilette. Im Zimmer stand ein Bett vor der Wand zur Dusche, das andere um 90 Grad versetzt an der rechten Seitenwand. Auf der linken Seite befanden sich zwei große Kleiderschränke. Ein Tisch und zwei Stühle komplettierten die Ausstattung. Die gesamte Vorderseite des Zimmers nahm ein großes Fenster und die Tür zum Balkon ein. Ich vermisste einen Fernseher oder zumindest ein Radio, aber beides war auf den Zimmern unerwünscht. Zumindest waren die Räume mit Telefonen ausgestattet.

Ich nahm meine Koffer und Taschen vom Wagen und stellte sie in der Mitte des Zimmers ab. Als mein Blick zurück auf den nun leeren Gepäckwagen fiel, stöhnte ich leise auf. Der musste natürlich wieder zurück an den Klinikeingang. Im Moment hatte ich eigentlich genug von Begegnungen mit Mitpatienten und deren klugen Bemerkungen und wollte mich nur noch in meinem Zimmer verkriechen, zumindest für eine Weile. Der Gedanke, noch einmal bis hinunter zum Eingang und wieder zurück laufen zu müssen, behagte mir gar nicht. Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig. Schließlich wollte ich nicht dafür verantwortlich sein, dass andere Neuankömmlinge ihre ganzen Habseligkeiten ohne dieses ohrenzermarternd quietschende Hilfsmittel durch die Gegend schleifen mussten. Ich ließ mein Gepäck also einfach stehen und warf meine Daunenjacke auf eines der Betten. Dann schloss ich das Zimmer wieder ab und schob den Wagen zurück zum Fahrstuhl. Ich war dankbar, dass mir niemand begegnete, zumindest bis ich wieder unten im Eingangsbereich angekommen war. Auf der Sitzecke vor dem Fenster entdeckte ich Nadine, die aufmerksam den Parkplatz beobachtete und nach weiteren Neuankömmlingen Ausschau hielt.

»Na, inzwischen noch jemand angekommen?« fragte ich, als ich den Wagen an ihr vorbei zum Eingang schob.

»Nö, bisher nicht. Die kommen alle erst kurz vor zwei, wetten?« antwortete sie.

Ich brachte den Wagen nach draußen. Als ich zurückkam war sie aufgestanden und wartete direkt vor der inneren Schwingtür auf mich.

»Bleib doch hier unten bei mir. Wir können ein bisschen quatschen und die anderen Neuen beglotzen«, schlug sie vor.

»Ich muss erst mal meine Sachen auspacken.«

»Ach komm, das kannst du später auch noch machen.«

»Ich mach das lieber, solang ich noch allein im Zimmer bin.«

»Na gut«, gab sie schließlich nach.

Als ich mich schon umdrehen und gehen wollte, fragte sie: »Wie alt bist du eigentlich?«

»19«, antwortete ich.

»Ich bin 17, werd' aber nächsten Monat 18. Da können wir dann hier feiern.«

Ihre Fröhlichkeit stand irgendwie im krassen Gegensatz zu Ihrer abgemagerten Erscheinung und verwirrte mich. Ich fühlte mich völlig unsicher ihr gegenüber. Ihr Körper machte einen so schwächlichen und zerbrechlichen Eindruck, trotzdem sprühte sie nur so vor Energie. Ich dagegen hatte einen einigermaßen gut gebauten Körper, war nicht ganz unsportlich und sah auch nicht gerade schlecht aus. Trotzdem fühlte ich mich im Moment wie ein Häufchen Elend.

»Wir sehen uns ja dann später«, sagte ich und winkte ihr zu. Diesmal nahm ich die Treppe. Mit schnellen Schritten erreichte ich wieder das Zimmer, das ich mir bald mit einem anderen Patienten würde teilen müssen. Eigentlich hätte ich auch ein Einzelzimmer haben können und ärgerte mich jetzt etwas darüber, dass ich auf dem Anmeldeformular 'Doppelzimmer' angekreuzt hatte. Damals war mir der Gedanke sehr verlockend erschienen, vielleicht mit einem hübschen Jungen in einem Zimmer zu schlafen. Meine Homosexualität war immer noch ein wohl gehütetes Geheimnis. Eigentlich war ich mir auch immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob ich überhaupt schwul war. Dass mich Mädchen nicht interessierten, das wusste ich zwar ganz genau, aber irgendwie war bei mir alles etwas komplizierter. Schon seit meiner Kindheit fand ich Kleidungsstücke mit Kapuzen irgendwie aufregend, obwohl ich keine Erklärung dafür hatte, warum das so war. Irgendwann hatte ich dann herausgefunden, dass man so etwas wohl Fetischismus nannte und ich nicht der einzige Mensch auf diesem Planeten war, der so merkwürdige Gefühle hatte. Diese Erkenntnis half mir allerdings auch nicht unbedingt weiter. Na gut, ich hatte also einen Fetisch für Kapuzenklamotten. Irgendwie kam ich mir damit zwar etwas abnormal vor, aber letztendlich blieb mir ja nichts anderes übrig, als meine merkwürdige Neigung einfach zu akzeptieren. Neben Kapuzensweatshirts mochte ich vor allem Winter- und Regenjacken aus Nylon, deren dünne Kapuzen im Kragen versteckt waren. Der Anblick von gutaussehenden Jungs, die eine Kapuze aufgesetzt hatten, löste bei mir jedes Mal recht heftige Gefühle aus. Auch meine Daunenjacke war aus schwarzem, leicht glänzendem Nylonstoff und hatte eine dünne Kapuze hinter einem Klettverschluss im Kragen. Sie lag immer noch auf dem Bett, auf das ich sie vorhin achtlos geworfen hatte. Jetzt nahm ich sie auf und hängte sie an die Garderobe neben der Zimmertür.

Anschließend machte ich mich lustlos daran, meine Koffer und Taschen auszupacken. Ich öffnete einen der beiden Kleiderschränke und schlichtete nach und nach den Inhalt meiner Koffer in die einzelnen Fächer. Als ich endlich damit fertig war, war es bereits kurz vor zwölf. Ich hoffte, noch etwas Ruhe zu haben, bevor mein Zimmergenosse eintraf. Ich legte mich auf das Bett an der Wand zur Dusche und nahm es damit für mich in Beschlag. Ich versuchte, mich so gut es ging zu entspannen und lauschte den Geräuschen auf dem Gang. Gerade jetzt war dort recht viel los. Anscheinend verließen viele Patienten ihre Zimmer, um sich auf den Weg in den Speisesaal zu machen. Nach einigen Minuten setzte schließlich Stille ein. Jetzt waren wohl alle unten beim Essen.

 

Kapitel 2 - Kevin

Nach einer guten Viertelstunde hörte ich plötzlich Stimmen näher kommen, begleitet von einem Rumpeln und Quietschen. Jemand schob einen der Gepäckwagen durch den Gang. Ob dies mein Zimmergenosse war? Falls ja, war er ebenfalls recht früh hier. Ich lauschte, wie die Personen näher kamen und schließlich genau vor meiner Türe stehen blieben.

»Nummer 213. Hier ist es«, hörte ich eine dumpfe männliche Stimme auf dem Flur.

»Klopf mal an, vielleicht ist dein Mitbewohner ja im Zimmer.«

Diesmal war es unverkennbar die Stimme einer Frau, die ich da hörte. Ich setzte mich nervös und erwartungsvoll auf. Es klopfte mehrmals an der Tür und nach einigen Sekunden hörte ich, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Ich sprang auf und blickte um die Ecke zur Zimmertüre. Ich spürte, wie mir ein Schauer durch den Körper lief, als ich den Jungen erblickte, der von einer Hand auf seiner Schulter sanft ins Zimmer geschoben wurde. Er war etwa in meinem Alter und ungefähr 1,80 m groß. Damit überragte ich ihn, wenn überhaupt, höchstens um ein oder zwei Zentimeter. Lange, lockige dunkle Haare fielen ihm in sein hübsches Gesicht, als er sich bückte, um eine Reisetasche auf dem Boden abzustellen. Er blickte mich schüchtern an und reichte mir die Hand.

»Hallo, ich bin Kevin Winter«, sagte er zögerlich.

»Hi, ich bin David Kranitz«, erwiderte ich, als ich ihm die Hand schüttelte.

Er deutete auf die beiden Personen, die nach ihm das Zimmer betreten hatten und sagte leise: »Meine Eltern.«

Kevins Anblick hatte mich so in den Bann gezogen, dass ich erst jetzt richtig Notiz von der Frau und dem Mann nahm, die mir freundlich zulächelten. Ich schüttelte beiden die Hand und stellte mich auch ihnen vor.

»Mensch, da habt ihr aber ein schönes Zimmer«, meinte die Mutter, als sie sich eine Weile umgesehen hatte. Kevin zuckte nur mit den Schultern. Er schien über seine Situation mindestens genauso unglücklich zu sein wie ich. Die Gegenwart seiner Eltern machte die Sache für ihn wohl nur noch unangenehmer.

»Hast du etwas dagegen, wenn ich das Bett hier nehme?« fragte ich, um sein Schweigen zu durchbrechen. Ich deutete auf das Bett, auf dem ich gerade gelegen hatte. Der Abdruck meines Körpers auf der Bettdecke war noch immer deutlich zu sehen.

»Nein, ist okay«, murmelte er und setzte sich zögerlich auf das andere Bett. Er trug blaue Jeans und ein hellbeiges Sweatshirt. Eine Jacke hatte er nicht an. Sie war wohl irgendwo zwischen seinem Gepäck. Inzwischen trug sein Vater zwei große Koffer ins Zimmer und stellte sie in der Mitte des Raumes ab. Ich trat einen Schritt zur Seite, um Platz zu machen. Den Gepäckwagen hatte er vor der Türe stehen lassen, er hätte ohnehin nicht an den Taschen vorbeigepasst, die schon neben der Garderobe standen. Die Anspannung im Raum war deutlich zu spüren, auch bei Kevins Eltern. Niemand schien so recht zu wissen, was er sagen sollte. Ich entschloss mich, die drei alleine zu lassen. Sicher hatten sie noch einiges zu bereden.

»Naja, ich geh mal runter in die Halle. Dann kannst du dich in Ruhe von deinen Eltern verabschieden, okay?«

Seine Eltern lächelten dankbar, während Kevin selbst mir nur kurz zunickte und dann wieder auf den Boden starrte. Ich quetschte mich an den Eltern und dem Gepäck vorbei und ging durch die immer noch offen stehende Tür hinaus in den Gang. Den inzwischen leeren Gepäckwagen nahm ich gleich mit nach unten. Am Übergang zwischen den beiden Gebäudeflügeln entdeckte ich einen zweiten Fahrstuhl, der mich zurück ins Erdgeschoss brachte.

Die Eingangshalle war nun voller Leute. Einige kamen aus dem angrenzenden Speisesaal, andere saßen bereits an den Sitzgruppen. Nadine war diesmal nirgends zu entdecken. Jetzt hätte ich nichts gegen ihre Gesellschaft einzuwenden gehabt. Ich setzte mich an den einzigen noch freien Tisch und nahm eine der Zeitschriften vom Stapel. Ohne den Inhalt richtig wahrzunehmen, blätterte ich durch die Seiten. Nach zwanzig Minuten kehrte endlich wieder etwas Ruhe ein. Der Speisesaal hatte sich inzwischen geleert und viele Patienten waren wieder auf ihren Zimmern oder in irgendwelchen Therapiestunden verschwunden. Ich war froh, dass es die ganze Zeit über niemand für nötig befunden hatte, mich anzusprechen.

Ich blätterte immer noch desinteressiert die Zeitschriften durch, als auf dem Parkplatz ein weißer VW-Bus vorfuhr. An der Tür war der Schriftzug der Klinik zu erkennen. Die Schiebetür öffnete sich und vier junge Frauen stiegen aus. Der Fahrer hatte inzwischen die Heckklappe geöffnet und die Vier holten ihre Koffer und Taschen aus dem Wagen. Sie schienen alle etwa Anfang 20 zu sein. Ich fragte mich, ob sie wohl auch zu meiner Gruppe gehörten. Sie mussten wohl mit der Bahn gekommen sein. Die nächste Stadt mit einem Bahnhof war etwa 15 Kilometer entfernt und die Klinik holte Patienten, die mit dem Zug kamen, mit dem Kleinbus von dort ab. Ich beobachtete die Neuankömmlinge, wie sie an der Rezeption die obligatorischen Begrüßungsfloskeln über sich ergehen ließen und dann jeweils zu zweit mit einem völlig überladenen Gepäckwagen im Aufzug verschwanden. Inzwischen war ich beinahe wieder alleine in der Halle. Ich blickte auf meine Uhr, es war inzwischen 13.15 Uhr. Kevins Eltern hielten es aber lange bei ihrem Sohn aus. Naja, vielleicht halfen sie ihm noch beim Auspacken. Ich wollte gerade aufstehen und etwas durch die Klinik bummeln, als sich die Fahrstuhltüre öffnete und die beiden heraustraten. Erst jetzt betrachtete ich sie genauer. Der Mann war wohl etwa 50 und trug einen Anzug mit Krawatte. Er machte auf mich den Eindruck eines erfolgreichen Geschäftsmannes. Seine Frau schien ein paar Jahre jünger zu sein. Sie trug ein elegantes Kostüm, das sicher nicht ganz billig gewesen war. Die beiden entdeckten mich sofort.

»Heinz, da sitzt der junge Mann, der mit Kevin im selben Zimmer ist«, sagte sie zu ihrem Mann. Sie sprach gerade so laut, dass ich ihre Worte verstehen konnte. »Vielleicht sollten wir mit ihm reden.«

Ihr Gatte nickte und die beiden kamen auf mich zu.

»Dürfen wir uns kurz setzen?« fragte sie.

»Natürlich, gerne«, antwortete ich.

Die beiden nahmen Platz.

»Wissen Sie, wir haben in letzter Zeit viel durchgemacht und machen uns große Sorgen um Kevin. Wir sind uns nicht einmal sicher, ob diese Klinik hier das Richtige für ihn ist. Eigentlich wollten sie ihn hier gar nicht aufnehmen.«

Kevins Mutter fiel es sichtlich schwer, darüber zu reden. Ihr Mann griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Dann fuhr er fort: »Vor ein paar Monaten ist Kevins jüngerer Bruder, unser zweiter Sohn, bei einem Fahrradunfall ums Leben gekommen. Die beiden haben damals zusammen eine Radtour unternommen und Kevin musste mit ansehen, wie sein Bruder starb.«

»Oh, das tut mir leid«, stammelte ich. »Auch für Sie meine ich«, fügte ich hilflos hinzu.

Die beiden nickten mir dankbar zu.

»Die beiden sind eine abschüssige Strecke hinuntergefahren und Marco, Kevins Bruder, war wohl zu schnell. Kevin fuhr etwa 50 Meter hinter ihm und rief ihm noch zu, er solle langsamer fahren. Marco muss sich wohl kurz nach Hinten umgesehen haben, dabei ist er von der Straße abgekommen und vom Fahrrad gefallen. Er ist sehr unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen und dann auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.«

Kevins Vater machte wieder eine Pause und seufzte tief.

»Kevin hat das überhaupt nicht verkraftet. Die Wochen danach hat er sich völlig zurückgezogen. Er war nicht einmal mit zur Beerdigung. Er ist nur noch in seinem Zimmer gelegen, hat die Decke angestarrt und kaum ein Wort geredet. Wir konnten ihn nicht dazu bewegen, in die Schule zu gehen oder seine Freunde zu treffen.«

Herr Winter schüttelte verzweifelt den Kopf. Die Erinnerungen schienen ihm sehr zuzusetzen. Seine Frau fuhr fort: »Nach einigen Wochen schien es Kevin dann langsam besser zu gehen, er ist wieder zur Schule gegangen und hat sich ab und zu sogar mit Freunden getroffen. Wir dachten schon, dass das schlimmste nun überstanden sei. Wissen Sie, es war schon so schwer für uns, Marco zu verlieren. Danach auch noch die vielen Sorgen um Kevin, das war kaum auszuhalten. Wir waren so froh, dass er wieder Lebensmut zu finden schien.«

Sie begann zu schluchzen und öffnete ihre Handtasche um ein Papiertaschentuch herauszuholen. Während sie sich die Augen wischte, fuhr wieder ihr Mann fort:

»Als es Kevin am Anfang so schlecht ging, haben wir uns kaum getraut, ihn aus den Augen zu lassen. Immer hatten wir Angst, dass er sich etwas antut. Als es ihm dann wieder eine zeitlang besser zu gehen schien, haben wir eine Einladung von Freunden angenommen und waren einen Abend über weg. Wir wollten einfach mal wieder auf andere Gedanken kommen. Als er dann alleine zu Hause war, muss er alle möglichen Medikamente aus dem Arzneischrank geschluckt haben. Er war bewusstlos, als wir nach Hause kamen. Wir können froh sein, dass wir schon so früh wieder zurückgekommen sind und noch in sein Zimmer gesehen haben. Sonst wäre er jetzt wohl auch tot.«

Auch Herrn Winter standen jetzt Tränen in den Augen. Nach einer längeren Pause erzählten die beiden weiter. Kevin war im Krankenhaus der Magen ausgepumpt worden. Als es ihm körperlich wieder besser ging, war er in die geschlossene Psychiatrie verlegt worden. Das war noch ein zusätzlicher Schock für ihn gewesen. Er war dort überhaupt nicht zurechtgekommen und hatte sich gegen jede Therapie gesperrt. Seine Eltern hatten sich deswegen nach einer anderen Klinik umgesehen und waren in Bad Neuheim fündig geworden. Hier war man aber eigentlich nicht auf Patienten ausgerichtet, die suizidgefährdet waren, was bei Kevin wohl immer noch der Fall war. Nur mit einigen Tricks und guten Beziehungen war es möglich gewesen, ihn hier unterzubringen. Er hatte seinen Eltern hoch und heilig versprechen müssen, sich nichts anzutun. Erst dann hatten sie es ihm ermöglicht, hierher verlegt zu werden.

»Wir dachten, es wäre ganz gut, wenn Sie von Anfang an Bescheid wissen«, beendete Frau Winter schließlich Ihre Ausführungen. »Bitte passen Sie ein bisschen auf Ihn auf.«

»Ja klar, mache ich gerne«, antwortete ich. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen. Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass die Situation mich völlig überforderte. Kevins Vater schien dies zu ahnen.

»Uns ist klar, dass Sie wahrscheinlich selbst große Probleme haben und nicht auch noch für Kevin Verantwortung übernehmen können. Das erwarten wir auch nicht. Aber informieren Sie vielleicht einen der Ärzte oder Psychologen, wenn Ihnen etwas an Kevin auffällt, was Sie beunruhigt. Wissen Sie, ein Arzt aus Kevins alter Klinik meinte, dass jemand, der sich wirklich umbringen wolle, dies auch in der geschlossenen Abteilung schaffe. Hier sind wenigstens Leute in seinem Alter, mit denen er hoffentlich eher klarkommt. Wir glauben, dass er sich hier wohler fühlen wird und dadurch schneller vorankommt. Und er hat uns ja ganz fest versprochen, dass er sich nichts antut, solange er hier ist. Wir glauben ihm.«

Seine Eltern standen schließlich auf und verabschiedeten sich von mir. Draußen auf dem Parkplatz stiegen die beiden in einen großen Mercedes und machten sich wieder auf den Heimweg. Ich empfand ungeheures Mitleid mit den beiden und erst recht mit Kevin. Meine Stimmung war angesichts dieser traurigen Geschichte nun völlig am Boden. Ich war gerade dabei aufzustehen und zur Treppe zu gehen, als Nadine mir entgegenkam. An ihrer Seite befand sich ein junges Mädchen. Sie konnte höchstens 14 oder 15 sein.

»Das ist Christina, sie ist mit mir in einem Zimmer«, sagte Nadine fröhlich. Ihre Fröhlichkeit passte so gar nicht zu meiner augenblicklichen Gemütslage.

»Das ist David, er ist auch in unserer Gruppe«, stellte sie mich anschließend ihrer Zimmergenossin vor.

»Hallo Christina«, sagte ich und schüttelte dem Mädchen die Hand. Trotz meiner eingetrübten seelischen Verfassung konnte ich nicht anders, als sie sofort sympathisch zu finden. Sie war mindestens einen Kopf kleiner als ich, hatte lange, braune Haare und ein noch fast kindliches Gesicht. Sie lächelte mich schüchtern an und sagte »Hallo.«

»Kommst du mit uns in die Cafeteria?« fragte mich Nadine. »Da wollen wir gerade hin. Wir haben noch eine gute Stunde Zeit.«

»Ich muss zurück ins Zimmer, mein Mitbewohner ist schon da.«

»Bring ihn doch mit herunter«, erwiderte sie.

»Ich weiß nicht, ob er Lust hat.«

»Frag ihn doch einfach.«

»Okay, mal sehen.«

Wir trennten uns wieder. Ich sah den Mädchen nach, wie sie die Cafeteria neben dem Speisesaal betraten, und stieg wieder die Stufen zum zweiten Stock hoch.

Kevin war nicht im Zimmer. Vielleicht erkundete er ja die Klinik. Ich wartete eine Weile auf ihn und entschied mich dann doch noch, zu den Mädchen hinunterzugehen. Unterwegs konnte ich ja nach Kevin suchen.

Ich durchstreifte sämtliche Flure der verschiedenen Stockwerke, konnte ihn aber nirgends entdecken. Irgendwie war ich darüber beunruhigt. Die Worte seiner Eltern klangen mir noch immer im Ohr. Nun, er würde sicher wieder auftauchen. Ich musste auch an mich denken und endlich auf andere Gedanken kommen, um nicht noch durchzudrehen. Also setzte ich mich zu den beiden Mädchen in die Cafeteria. Christina hatte eine bereits zur Hälfte geleerte Tasse Kakao vor sich stehen. Nadine nippte an einem Glas Früchtetee.

»Na, ihr zwei«, begrüßte ich die beiden.

»Hey, wir dachten schon, du kommst nicht mehr«, sagte Nadine. »Wo hast du denn deinen Zimmergenossen gelassen?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, wo der ist. Er war nicht auf dem Zimmer.«

Ich setzte mich zu den beiden.

»Ich glaube, er fühlt sich hier nicht besonders wohl«, fügte ich hinzu. »Ich habe vorhin mit seinen Eltern gesprochen, ihm geht's wohl ziemlich mies.«

»Ach Mensch, der Ärmste«, bemerkte Nadine mitfühlend. »Was hat er denn?«

»Ich glaube, das sollte er euch besser selbst erzählen. Jedenfalls hat er in letzter Zeit ein paar schreckliche Dinge erlebt.«

Ich holte mir eine Cola und hörte dann Nadine zu, wie sie von ihren früheren Klinikaufenthalten berichtete. Sie litt wohl schon seit einigen Jahren an Essstörungen und hatte schon alle möglichen Therapien durch. Christina sagte die ganze Zeit über kaum ein Wort. Sie schien außergewöhnlich schüchtern zu sein. Vielleicht war das ein Grund, warum sie hier war. Im Moment konnte ich darüber nur Vermutungen anstellen.

»Warum bist du eigentlich hier?« fragte mich Nadine schließlich.

Mir war es bisher immer unangenehm gewesen, über meine Probleme zu reden. Am liebsten wäre ich der Frage ausgewichen.

»Naja«, meinte ich zögerlich und starrte auf die Tischplatte. »Ich bin wegen Panikattacken hier. Angsterkrankung.«

Nadine reagierte, als ob dies das normalste der Welt wäre.

»Ah so. Naja, so was haben viele. Hab ich auch schon einige kennen gelernt.«

Eigentlich hatte ich keine Lust, genaueres darüber zu erzählen, aber irgendwie fing ich dann doch an, von meiner ersten Angstattacke während einer Matheklausur zu berichten. Ich schilderte, wie sich die Panik so sehr gesteigert hatte, dass ich schließlich einfach aus dem Klassenzimmer gerannt war. Nachher hatte ich dann allen erzählt, mir sei plötzlich schlecht geworden. Ich hatte die Prüfung dann eine Woche später wiederholen dürfen. Um nicht wieder in Panik zu geraten, hatte ich vorher gelernt wie nie zuvor. Ich war mir absolut sicher gewesen, den Stoff hundertprozentig zu beherrschen. Trotzdem war während der Nachholprüfung nach einiger Zeit wieder diese Angst aufgekommen. Wenigstens hatte ich mich diesmal soweit beherrschen können, nicht wieder aus dem Zimmer zu rennen. Trotzdem hatte ich die Klausur in den Sand gesetzt. Das Gefühl, eine schlechte Note bekommen zu haben, war dabei weit weniger schlimm gewesen als die Erinnerung an die Angst- und Panikgefühle während der Prüfung und die Befürchtung, dass diese bei der nächsten Klausur wieder auftreten würden.

»So hat das bei mir angefangen«, beendete ich meinen Bericht. Mehr wollte ich im Moment wirklich nicht erzählen. Ich würde hier noch oft genug in allen Einzelheiten darüber reden müssen. Ich wunderte mich ohnehin, dass ich so wenige Probleme gehabt hatte, den beiden ohne Scham davon zu erzählen. Mit meinen Eltern hatte ich darüber nie richtig reden können, mit Freunden schon gleich gar nicht. Letztere hatten sich nur gewundert, was plötzlich mit mir los war, als ich auf einmal immer öfter bei Prüfungen gefehlt hatte und dann manchmal überhaupt nicht mehr in der Schule erschienen war.

»In einer Viertelstunde fängt die Gruppe an«, sagte Nadine auf einmal.

Ich war überrascht, wie schnell die Zeit vergangen war und erinnerte mich an Kevin.

»Ich geh noch mal schnell auf mein Zimmer«, sagte ich.

Als ich oben ankam, war Kevin immer noch verschollen. Das Zimmer sah noch genauso aus wie vorhin, anscheinend war er die ganze Zeit über nicht hier gewesen. So langsam begann ich, mir wirklich Sorgen zu machen. Ich lief nach vorne zu dem großen Raum, in dem sich unsere Therapiegruppe in wenigen Minuten treffen würde. Es war das Zimmer gegenüber dem Aufzug, aus dem ich schon bei meiner Ankunft die Stimmen einer anderen Gruppe vernommen hatte. Vielleicht war Kevin ja bereits dort.

Die Tür stand weit offen und ich blickte hinein. Acht Stühle waren in einem Halbkreis angeordnet. In der Mitte stand der Stuhl, auf dem wohl die Psychologin sitzen würde, die unsere Gruppe leitete. Bisher hatte ich sie noch nicht kennen gelernt, hatte nur ihren Namen auf dem Merkzettel gelesen. Eine raumhohe Fensterfront ermöglichte den Blick auf den Klinikparkplatz. Vor einem der Fenster stand eine junge Frau und blickte hinaus. Als sie mich hörte, drehte sie sich um. Unsicher fragte sie mich: »Sind Sie auch hier in dieser Gruppe?«

»Ja«, antwortete ich und lief auf sie zu. Sie war keine der Frauen, die mit dem VW-Bus angekommen waren, und ich sah sie jetzt zum ersten Mal. Sie schien Anfang 20 zu sein, vielleicht auch schon 25.

Ich reichte ihr die Hand und stellte mich vor: »Hallo, ich bin David Kranitz.«

»Stefanie Jungbauer. Guten Tag.«

Sie hatte schulterlanges, leicht gewelltes blondes Haar und trug eine Brille.

»Sie sind auch erst heute angekommen?« fragte sie mich.

»Ja. Haben Sie schon andere aus der Gruppe kennen gelernt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe ein Einzelzimmer und bin erst vor einer knappen Stunde angekommen«, erklärte sie.

»Naja, ich hab schon ein paar von uns getroffen. Soweit ich das mitbekommen habe, duzen sich die Patienten hier untereinander.«

»Ah«, antwortete sie.

Eine Zeitlang setzte betretenes Schweigen ein und ich war froh, als Nadine und Christina durch die Tür kamen und Stefanie begrüßten. In Nadines Gegenwart lockerte sich die Stimmung sofort etwas auf. Nur wenig später kam eine weitere Frau durch die Tür. Sie hatte mittellange, glatte schwarze Haare und war mit Jeans und einem Wollpullover bekleidet. Ich schätzte Sie auf Anfang bis Mitte 30.

»Oh, schön, einige sind ja schon da«, sagte sie munter und musterte uns der Reihe nach. Dann blickte sie auf die Uhr an der Wand.

»Na, die anderen zwei müssten aber auch gleich da sein, dann können wir anfangen.«

Das war sie also, unsere Psychologin.

»Sie dürfen sich gerne schon setzen«, forderte sie uns auf und nahm selbst auf dem Stuhl in der Mitte Platz.

Ich setzte mich auf einen Stuhl in der Mitte des Halbkreises, Stefanie ganz nach außen in die Nähe des Fensters. Nadine und Christina setzten sich nebeneinander auf die beiden Stühle zwischen uns, rückten noch etwas näher aneinander und hielten sich an den Händen. Die beiden schienen sich schon ganz gut angefreundet zu haben. Bei Nadines Aufgeschlossenheit war dies aber auch kein Wunder.

Einige Minuten vergingen, bis eine weitere Person in den Raum trat. Ich erkannte eine der jungen Frauen aus dem VW-Bus wieder. Sie schien ganz aufgeregt zu sein und war etwas außer Atem.

»Meine Zimmerpartnerin kommt nicht, sie will wieder abreisen«, stammelte sie.

»Ja, das hat sie uns schon mitgeteilt«, antwortete die Psychologin ruhig. »Nehmen Sie doch einfach Platz. So wie es aussieht, werden wir nur eine kleine Gruppe.«

Die junge Frau folgte der Anweisung und wählte aus den vier noch verbliebenen freien Stühlen ausgerechnet den Platz direkt neben mir. Sie hatte beträchtliches Übergewicht und war das genaue Gegenteil von Nadine. Ein paar Schweißperlen liefen ihr über das Gesicht.

»Puh«, stöhnte sie erschöpft, als sie sich gesetzt hatte. Dann beugte sie sich etwas nach vorne und lächelte mir und dem Rest der Gruppe zu. Immer noch etwas außer Atem sagte sie: »Hallo, ich bin Gudrun.«

Trotz ihres Übergewichts hatte sie eigentlich ein ganz hübsches Gesicht und wirkte recht sympathisch. Wir nannten ihr der Reihe nach unsere Namen.

»So, einer fehlt noch«, meinte die Psychologin schließlich, nachdem wieder Stille im Raum eingekehrt war.

Die Zeiger der Uhr an der Wand zeigten nun bereits 15.02 Uhr an.

»Kevin war eben nicht im Zimmer. Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte ich zögerlich.

»Na, dann warten wir noch eine Minute«, erwiderte sie.

Wir saßen einige Zeit schweigend auf unseren Sitzen, bis Kevin endlich um die Ecke bog und mit gesenktem Kopf und einem leisen »Hallo!« den Raum betrat. Er setzte sich ohne ein weiteres Wort auf den äußersten Stuhl in der Nähe der Tür und ließ zwischen sich und Gudrun zwei Plätze frei. Ich war erleichtert, dass er endlich da war.

Die Psychologin stand auf und schloss die Tür.

»Möchten Sie nicht näher an die anderen heranrutschen?« fragte Sie Kevin. »Es kommt sonst niemand mehr.«

Kevin schüttelte den Kopf. Ich wollte schon aufstehen und mich neben ihn setzen, ließ es dann aber sein. Anscheinend wollte er lieber alleine sitzen.

»So, dann können wir loslegen«, begann die Psychologin munter ihre Ausführungen.

»Mein Name ist Fröschl. Ich bin Diplom-Psychologin und werde Ihre Gruppe leiten. Zunächst möchte ich Sie erst einmal ganz herzlich hier begrüßen und hoffe, dass Sie sich hier wohlfühlen.«

Ich blickte hinüber zu Kevin, der immer noch den Boden anstarrte und sich hier alles andere als wohl zu fühlen schien.

»Sie haben es ja schon mitbekommen, Sie sind im Moment nur zu sechst in der Gruppe«, fuhr Frau Fröschl fort.

»Eine Patientin will uns schon wieder verlassen, ihr scheint es hier nicht zu gefallen.«

Im letzten Halbsatz schwang ein leicht spöttischer, fast etwas verächtlicher Unterton mit. Sofort sanken bei mir die Sympathiewerte für unsere Psychologin. Ich konnte nur zu gut verstehen, warum die Patientin nicht hier bleiben wollte, hatte ich doch ähnliche Gefühle.

Frau Fröschl fuhr fort: »Ein anderer Patient ist bisher noch nicht angekommen und wir haben leider auch sonst nichts von ihm gehört. Im Moment wissen wir daher noch nicht, ob er vielleicht später noch eintrifft.«

Anschließend erklärte sie den Ablauf der Therapie. Gruppen wurden immer aus Patienten desselben Alters gebildet. Dies war angeblich effektiver als die Gruppierung nach der Art der psychischen Störung. Die Gruppe würde sich von nun an vier Mal in der Woche jeweils von 15.00 Uhr bis 16.30 Uhr hier in diesem Raum treffen. Donnerstags war frei. Zusätzlich gab es spezielle Therapieformen, die für jeden individuell festgelegt wurden und auf das Krankheitsbild abgestimmt waren. In Einzelgesprächen würde Frau Fröschl in den nächsten Tagen herausfinden, welche Therapien jeweils für uns geeignet waren. Sie legte auch gleich die Termine für diese Gespräche fest. Ich war schon am nächsten Tag um 10.00 Uhr an der Reihe, Kevin eine Stunde später. Offensichtlich war sie neugieriger auf die Männer in der Gruppe. Oder welchen anderen Grund hatte sie für diese Entscheidung?

Schließlich bat sie uns, sich der Reihe nach vorzustellen und ein wenig über uns zu erzählen.

Stefanie fing an. Sie war 24 und verheiratet. Seit der Geburt ihrer Tochter vor einigen Monaten litt sie an Depressionen.

Nach ihr war Christina an der Reihe. Mit leiser Stimme nannte sie ihren Namen. Sie war 16 Jahre alt, was ich kaum glauben konnte. Ich hatte Sie auf allerhöchstens 15 geschätzt. Zögerlich erzählte Sie, dass sie sich vor allen möglichen Dingen fürchtete. Zum Beispiel machten ihr Hunde und Spinnen Angst. Außerdem konnte sie nachts nur bei geöffneter Türe einschlafen, wenn im Flur das Licht eingeschaltet war. Sie nannte nur ein paar der Dinge, vor denen sie sich fürchtete. Es schienen noch einige mehr zu sein.

Als Nadine an der Reihe war, sorgte sie für den ersten Lacher.

»Na, bei mir sieht man ja, warum ich hier bin, oder?« meinte sie frech.

Auch die Psychologin musste grinsen und meinte: »Schön, dass Sie das so locker sehen. Ihnen scheint es hier ja schon ganz gut zu gehen.«

Nadine wiederholte noch einmal in Kurzform ihre Krankengeschichte, die sie bereits in der Cafeteria erzählt hatte.

Als ich an der Reihe war, nannte ich genau wie die anderen meinen Namen und mein Alter. Ich erzählte ein wenig über meine Familie, dass ich ein Einzelkind war und sagte dann knapp, dass ich an Prüfungsangst mit schweren Panikattacken litt, und dass ich vermutete, mein Abitur wohl etwas zu ernst genommen zu haben.

Gudrun war 21 Jahre alt und wegen ihres Übergewichts und den damit verbundenen Problemen hier. Sie hatte bisher noch keinen festen Freund gefunden und war deswegen oft niedergeschlagen. Aus Frust aß sie dann nur noch mehr. Auch im Beruf hatte sie wegen ihres Gewichts große Probleme.

Als letztes war Kevin an der Reihe. Er knetete nervös die Hände und man sah ihm an, dass er am liebsten aufgestanden und hinausgerannt wäre.

»Ich bin Kevin Winter und ich bin 18 Jahre alt«, sagte er.

Er machte eine Pause und atmete tief durch.

»Muss ich jetzt noch mehr sagen?« fragte er schließlich leise.

»Es ist Ihre Entscheidung, was Sie hier erzählen möchten«, erwiderte Frau Fröschl. »Ich zwinge Sie zu nichts.«

Kevin senkte seinen Blick wieder. Die Psychologin wartete noch einen Moment und fuhr dann zur gesamten Gruppe gewandt fort: »Sie sollten sich auch außerhalb der Gruppe möglichst häufig treffen und miteinander reden. Sie lernen sich dann besser kennen und es fällt ihnen dann hier leichter, über Ihre Probleme zu sprechen.«

Anschließend beantwortete sie noch offene Fragen und entließ uns dann kurz vor 16.30 Uhr, nicht ohne uns an die Begrüßung durch den Chefarzt zu erinnern, die in einer halben Stunde in einem Saal im Keller stattfinden würde.

Kevin stand als erster auf und war sofort durch die Tür verschwunden.

»Was ist denn das für einer?« fragte Gudrun verwundert, als sie ihm nachblickte.

»Er ist mit mir in einem Zimmer. Zu mir hat er auch noch nicht viel gesagt«, antwortete ich schulterzuckend.

»Komisch«, meinte sie. Sie schien relativ extrovertiert zu sein und ich fand sie recht nett. Man schien recht gut mit ihr ins Gespräch kommen zu können. Nachdem auch die Psychologin gegangen war, blieben wir noch eine Weile gemeinsam im Raum. Während Nadine und Christina mit Stefanie plauderten, erzählte ich Gudrun, dass ich mit Kevins Eltern geredet hätte und dass ich ganz gut verstehen könne, warum er sich so verhielt. Ich verriet nichts genaueres, sondern sagte auch zu Gudrun, dass Kevin selbst damit herauskommen müsse. Ich beschloss, dies auch weiterhin so zu halten. So war es wohl am besten für Kevin. Es genügte, den anderen nur soviel zu verraten, dass Sie für Kevins Verhalten wenigstens ansatzweise eine Erklärung hatten und ihn nicht von vorneherein aufgrund seines Benehmens aus der Gruppe ausschlossen.

Als ich zurück ins Zimmer kam, lag Kevin auf dem Bett.

»Wo warst du vorhin die ganze Zeit?« fragte ich ihn.

Er zuckte nur mit den Schultern. Anscheinend wollte er nicht mit mir reden.

»Kommst du mit nach unten? Es ist gleich fünf«, versuchte ich es noch mal.

»Ich komme gleich nach, geh schon vor.«

Wenigstens sagte er mal ein paar Worte.

Die vier Mädels warteten bereits vor der Türe des Vortragssaales. Außer uns waren noch etwa 20 Personen hier, die heute anscheinend ebenfalls neu eingetroffen waren, aber zu anderen Gruppen gehörten. Sie waren wohl alle so etwa zwischen 25 und 40 Jahre alt. Der Raum schien genug Platz für alle Patienten der Klinik zu bieten. Wir setzten uns zu fünft nebeneinander in die erste Reihe, direkt an den Mittelgang. Mit der Zeit füllten sich auch noch die beiden Reihen dahinter, obwohl überall große Lücken frei blieben. Als sich die Türe nach einer Weile mit einem lauten Geräusch schloss, verstummte das Gebrabbel im Raum. Ich drehte mich um. Der Chefarzt, dessen Gesicht ich bereits aus einem Hochglanzprospekt der Klinik kannte, kam den Gang entlang, gefolgt von einem großen Mann im blauen Kittel und einer zierlichen jungen Frau mit einer weißen Schürze. Ich entdeckte Kevin auf der anderen Seite des Ganges, zwei Sitzreihen hinter allen anderen.

Die Einführungsveranstaltung begann. Der Chefarzt Dr. Höfling stellte sich und die beiden anderen Personen vor. Der Mann im blauen Kittel entpuppte sich als Hausmeister, die zierliche Frau war die Diätassistentin der Klinik. Dr. Höfling berichtete umfassend über die verschiedenen Therapieangebote. Dabei wiederholte er vieles, was wir schon von unserer Psychologin erfahren hatten. Sein Vortrag wurde mir bald langweilig und ich sah mich wiederholt nach Kevin um. Er saß still auf seinem Stuhl, den Blick auf den Boden gerichtet. Irgendwie wurde ich langsam sauer über sein Verhalten.

Nach einer knappen Dreiviertelstunde war der Chefarzt endlich mit seinen Ausführungen am Ende und übergab das Rednerpult an den Hausmeister. Dieser warf mit Hilfe eines Overhead-Projektors nacheinander die Grundrisse der einzelnen Stockwerke an die Wand und erklärte die Lage der wichtigsten Räume, Aufzüge, Treppenhäuser und Eingänge. Er erläuterte, wann die einzelnen Eingänge morgens geöffnet und nachts wieder geschlossen wurden, wo das Rauchen erlaubt war und ab wann Nachtruhe angesagt war. Seinen Vortrag fand ich wesentlich interessanter als das Gerede des Chefarztes über die verschiedenen Therapieformen. Im Gegensatz zum Chefarzt schien der Hausmeister auch Humor zu haben. Er lockerte seine Ausführungen ab und zu wenigstens mit witzigen Bemerkungen auf und erzählte die Geschichte eines Patienten, der einmal nachts um eins vor der einzigen Eingangstür gestanden hatte, die rund um die Uhr geöffnet war. Der Patient war trotzdem nicht in das Gebäude hinein gekommen. Er hatte immer wieder versucht, die Türe nach innen aufzudrücken, war aber anscheinend nicht auf die Idee gekommen, einmal die andere Richtung auszuprobieren. Eine halbe Stunde war er hilflos in der Kälte gestanden, bis eine Gruppe von Patienten, die noch später in die Klinik zurückgekehrt war als er selbst, die Tür einfach nach außen aufgezogen hatte und an dem verdutzten Mann vorbei in die Klinik getreten war. Mit dieser Story sorgte der Hausmeister für schallendes Gelächter im Saal. Nur Kevin blieb weiter mit gesenktem Kopf sitzen.

Zum Schluss informierte uns die Diätassistentin noch ausführlich über die Essenszeiten, das Nahrungsangebot der Klinik, vegetarische Kost und spezielle Diäten. Als die Veranstaltung endlich beendet war, war es bereits 18.20 Uhr. Der Speisesaal war bereits seit 20 Minuten zum Abendessen geöffnet.

Als wir zum Essen gingen, war Kevin bereits wieder verschwunden. Der Speisesaal wimmelte bereits vor Patienten als wir eintraten. Der Tisch unserer Gruppe lag gleich rechts neben dem Eingang. Er war quadratisch, mit jeweils zwei Stühlen an jeder Seite. Da wir nur zu sechst waren, würden zwei davon frei bleiben. Naja, im Moment wohl eher drei, da Kevin sich wieder einmal verdrückt hatte. An einem großen Büffet konnte man sich nach Herzenslust den Teller füllen. Verschiedene Brot-, Wurst- und Käsesorten und diverse Salate machten einem die Auswahl nicht gerade einfach. Nadine und Gudrun nahm man diese schwierige Entscheidung deswegen auch von vornherein ab. Den beiden hatte man bereits gefüllte Teller auf den Tisch gestellt. Die Kalorien ihrer Speisen waren vom Personal fein säuberlich abgezählt worden.

Als wir zusammen am Tisch saßen, fiel das Gespräch sofort auf Kevin und sein merkwürdiges Verhalten. Die anderen schienen ihn nicht sonderlich sympathisch zu finden. Obwohl mein eigener Ärger über Kevins Verhalten beständig anwuchs, verteidigte ich ihn und bat die anderen um Geduld. Er würde mit der Zeit schon offener werden. Als wir mit dem Essen fertig waren, war er immer noch nicht aufgetaucht. Ich wollte ihm schon ein paar Brote schmieren und mit aufs Zimmer nehmen, als er schließlich doch noch aufkreuzte. Er füllte sich am Büffet einen Teller, setzte sich dann wortlos neben mich und begann zu essen. Die anderen diskutierten unterdessen darüber, wie wir den Abend verbringen konnten. An der Rezeption konnte man sich die verschiedensten Gesellschaftsspiele ausleihen und die Mädchen entschieden sich für einen Spieleabend in der Cafeteria. Ich war natürlich sofort dabei, nur Kevin sagte wieder einmal nichts dazu. Ausgerechnet Christina wagte es, ihn anzusprechen.

»Machst du auch mit Kevin?« fragte sie ganz schüchtern und sah ihn dabei ängstlich an. Kein normaler Mensch hätte ihrer Bitte widerstehen können.

Kevin kaute gerade auf einem Salatblatt herum und brauchte eine Weile, bis er heruntergeschluckt hatte. Dann sah er kurz zu Christina hinüber.

»Mal sehen«, nuschelte er undeutlich, während er das nächste Salatblatt aufspießte.

»Ach komm, bitte!«

Christina ließ nicht locker. Sie schaffte es tatsächlich, dass Kevin ihr kurz zulächelte.

»Also machst du mit?« fragte sie ein letztes Mal.

Kevin zuckte mit den Schultern, während er mit Messer und Gabel ein Stück von seinem Brot abschnitt und in den Mund steckte.

Wir warteten, bis Kevin mit dem Essen fertig war. Christina war unterdessen schon aufgestanden und zur Rezeption gelaufen, um ein Spiel auszusuchen. Sie hatte Nadine mitgenommen. Alleine schien sie sich nicht zu trauen. Umso mehr bewunderte ich ihren Mut, Kevin anzusprechen. Ich hatte die Kleine bereits in mein Herz geschlossen.

Als wir schließlich in die Cafeteria hinübergingen, kam Kevin tatsächlich mit. Wir setzten uns gemeinsam an einen freien Tisch und spielten ein Brettspiel, das alle außer mir bereits zu kennen schienen. Meine anfängliche Unkenntnis der Regeln sorgte für einige Lacher. Sogar Kevin ließ sich ab und zu ein Grinsen entlocken. Wir redeten unterdessen nur über belanglose Dinge. Christina und Kevin blieben die meiste Zeit über stumm. Es war bereits nach 22.00 Uhr, als wir schließlich auf unseren Zimmern verschwanden.

Kevin und ich gingen nacheinander ins Bad. Als ich zurück ins Zimmer kam, lag er bereits im Bett. Für den nächsten Morgen war zwischen acht und neun Uhr eine körperliche Untersuchung der neuen Patienten vorgesehen. Grund genug, möglichst früh einzuschlafen. Ich zog mich bis auf T-Shirt und Boxershorts aus und legte mich ebenfalls in mein Bett. Von dort aus konnte ich den Lichtschalter erreichen und knipste die Lampe an der Zimmerdecke aus.

»Gute Nacht, Kevin!« flüsterte ich zum anderen Bett hinüber.

»Gute Nacht«, kam leise zurück.

Normalerweise ging ich nie vor Mitternacht ins Bett. Die neue Umgebung sorgte zusätzlich dafür, dass ich nicht einschlafen konnte. Kevin schien es ähnlich zu gehen. Er wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Immer wieder sah ich auf die fluoreszierenden Zeiger meines Weckers. Es wurde 23.00 Uhr, 23.30 Uhr, 0.00 Uhr, 0.30 Uhr, 1.00 Uhr. Irgendwann musste ich dann doch eingeschlafen sein, denn als ich das nächste mal auf die Zeiger sah, standen sie auf 3.35 Uhr. Irgendwoher kamen merkwürdige Geräusche. Ich brauchte eine Weile, um mich zu orientieren. Erst langsam wurde mir klar, was los war. Die Geräusche kamen aus Kevins Ecke. Er weinte. Erschrocken richtete ich mich auf.

»Kevin?« flüsterte ich.

Ich hörte, wie er sich im Bett herumdrehte. Das nächste Schluchzen war nur noch gedämpft zu hören.

»Kevin?« flüsterte ich noch einmal.

Als wieder keine Antwort kam, knipste ich die Leselampe über meinem Bett an. Der Raum wurde von der Glühbirne hinter dem Rauchglas nur schwach erleuchtet. Die Stühle und der Tisch warfen große Schatten an die Wand. Meine Augen benötigten eine Weile, um sich an das Licht zu gewöhnen. Ich musste ein paar Mal blinzeln. Kevin hatte sein Gesicht im Kopfkissen vergraben. Sein Körper zuckte bei jedem Schluchzen unter dem Federbett. Ich schlug meine Bettdecke zurück und setzte mich auf.

»Hey«, flüsterte ich etwas lauter.

Wieder keine Reaktion.

Ich stand auf, lief langsam zu ihm hinüber und beugte mich über sein Bett. Als ich ihm die Hand auf die Schulter legen wollte, drehte er sich schnell weg.

»Lass mich«, hörte ich gedämpft durch das Kopfkissen.

»Hast du noch gar nicht geschlafen?« fragte ich zögerlich.

Er schüttelte leicht den Kopf.

»Soll ich jemanden holen?« fragte ich ihn. »Die können dir sicher ein Schlafmittel oder so was geben.«

Wieder schüttelte er den Kopf.

»Hey, ich kann dich doch hier nicht einfach so liegen lassen.«

Keine Antwort.

»Ich ruf mal unten in der Zentrale an, okay?«

Wieder reagierte er nicht. Wenigstens kam jetzt keine Ablehnung mehr. Ich hatte das Gefühl, dass er dringend Hilfe brauchte. Das Telefon stand auf einem kleinen Schränkchen zwischen den beiden Betten. Ich nahm den Hörer ab und überflog die Liste mit den internen Rufnummern, die neben dem Apparat lag. 'Medizinische Zentrale: 20' war da zu lesen. Ich drückte die beiden Zifferntasten und wartete, bis jemand abnahm.

»Hallo? Hier ist Zimmer 213. David Kranitz«, sprach ich in den Hörer. »Kevin geht's nicht besonders, ich glaube er hat noch nicht geschlafen.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung versicherte mir, dass gleich jemand hoch kommen würde.

»Es kommt gleich jemand«, flüsterte ich Kevin zu, nachdem ich wieder aufgelegt hatte. Er hatte sein Gesicht noch immer im Kopfkissen verborgen.

Ich ging an die Zimmertüre, öffnete sie und sah hinaus in den Gang. Nur die Notbeleuchtung war eingeschaltet. Ich hörte, wie sich am Übergang zwischen den beiden Gebäudeflügeln die Fahrstuhltüre öffnete. Wenige Augenblicke später kam eine Frau den Gang entlang. Sie war um die 40, recht klein, hatte kurz geschnittene Haare und war normal gekleidet. Das medizinische Personal trug hier im Allgemeinen keine weißen Kittel. Als sie näher kam, lächelte sie mir zu.

»Na, gibt's Probleme?« fragte sie leise, als sie unsere Zimmertür erreicht hatte. Ich deutete hinüber auf Kevins Bett. Sie betrat den Raum und ging auf Kevin zu.

»Ich bin Dr. Ballheim«, stellte sie sich vor. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Ich schloss die Türe wieder und setzte mich auf mein Bett.

»Als ich vorhin aufgewacht bin, hat er geweint. Ich glaube, er hat noch gar nicht geschlafen«, sagte ich.

Kevin richtete sich langsam auf. Seine Augen waren gerötet. Auf dem Kopfkissen waren mehrere feuchte Flecken zu sehen.

»Können Sie ihm nicht irgendwas geben, damit er schlafen kann?« fragte ich. Ich zitterte, teils vor Kälte, teils vor Aufregung, und zog mir die Bettdecke über die Oberschenkel.

Die Ärztin fragte Kevin, ob er mir ihr reden wolle. Kevin schüttelte nur den Kopf.

»Es wäre besser, wenn Sie mir erzählen würden, was in Ihnen vorgeht«, meinte sie einfühlsam. Kevin brachte kein Wort heraus. Er schien völlig fertig zu sein und tat mir unendlich leid. Schließlich zog die Ärztin einen Tablettenstreifen aus der Hosentasche und drückte eine der Pillen heraus.

»Könnten Sie bitte ein Glas Wasser holen?« bat sie mich.

»Ja, klar.«

Auf unserem Tisch standen noch zwei unbenutzte Gläser. Ich nahm eines davon und füllte es am Waschbecken in der Dusche mit kaltem Wasser. Ich reichte es der Ärztin. Diese gab Kevin die Tablette in die eine und das Glas in die andere Hand.

»Ich gebe Ihnen jetzt etwas, damit Sie einschlafen können. Sie sollten aber so schnell wie möglich anfangen, über Ihre Probleme zu reden, ja?«

Kevin nickte, steckte die Tablette in den Mund und trank etwas Wasser nach.

»Danke«, sagte er leise und kroch wieder unter seine Bettdecke.

Frau Dr. Ballheim drehte sich zu mir um.

»Na, Sie sehen aber auch ganz schön mitgenommen aus«, meinte sie.

»Geht schon«, antwortete ich leise.

»Er wird jetzt gleich schlafen. Die Tabletten wirken schnell. Danke, dass Sie uns Bescheid gegeben haben.«

»Naja, ich konnte ihn ja nicht einfach so liegen lassen.«

»Rufen Sie mich ruhig an, wenn wieder etwas sein sollte. Ich habe noch bis nächste Woche Nachtdienst.«

Ich schloss die Türe hinter ihr ab und legte mich wieder ins Bett.

»Geht's?« fragte ich Kevin bevor ich das Licht wieder ausschaltete.

Er nickte.

Der Vorfall hatte mir eine gehörige Portion Adrenalin in die Adern gepumpt und ich brauchte eine ganze Weile, bis ich wieder eingeschlafen war. Kevin lag da längst im Tiefschlaf. Die Tablette hatte tatsächlich schnell gewirkt.

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