Winterregen (Weirdos) - Eine Story von Robin

 

Kapitel 10 - Turbulenzen

Bereits am nächsten Tag wurde ich eines besseren belehrt. Nach der Gruppensitzung wollten wir Sechs einen kurzen Spaziergang machen. Thomas musste schließlich ab und zu ohnehin mal raus, um eine zu rauchen. Die Aufenthaltsräume für Nikotinabhängige waren nicht sonderlich gemütlich, schon gar nicht für Nichtraucher. Wir holten also nur schnell unsere Jacken aus den Zimmern und verließen das Gebäude dann durch den Haupteingang, um mal die Gegend auf dieser Seite der Klinik genauer zu erkunden. Als wir so über den Parkplatz schlenderten, blieb Thomas plötzlich stehen.

»Wartet mal kurz!« forderte er uns auf.

Er blickte angestrengt hinüber zu den Parkbuchten, die eine oder zwei Reihen weiter zu unserer Rechten lagen. Ich konnte nicht genau abschätzen, was er da genau begutachtete, aber irgendetwas Interessantes musste er wohl entdeckt haben. Er lief langsam an den geparkten Autos entlang und blieb schließlich vor einem davon wie angewurzelt stehen.

»Scheiße!« schrie er plötzlich laut. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

»Was hat er denn?« wollte Gudrun wissen.

»Keine Ahnung, besser wir gehen mal zu ihm rüber«, antwortete ich.

Als wir uns Thomas näherten, blickte er uns an. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Entsetzen und Angst.

»Was ist los, Thomas?« fragte Kevin.

»Das Auto da! Das gehört meinem Vater!«

Er deutete auf einen alten, schon etwas verrosteten Opel.

»Bist du sicher?«

»Ja klar, ich werd ja wohl noch unser Auto kennen.«

»Naja, vielleicht ist ja deine Mutter mit deiner Schwester hier. Kann ja sein, dass die beiden dich besuchen wollen, oder?«

»Meine Mutter? Die hat noch nicht mal 'nen Führerschein!«

Thomas war nun völlig außer sich.

»Das kann nur mein Vater sein! Was will der hier? Kann der mich nicht endlich in Ruhe lassen?«

Wir blickten uns um. Außer uns war niemand auf dem Parkplatz zu sehen, und der Opel war leer und verschlossen.

»Verdammt, was will der hier?« wiederholte Thomas noch einmal. »Und wo ist der jetzt?«

Er drehte sich im Kreis und schaute in alle Richtungen, fast so, als ob er erwartete, dass sein Vater plötzlich hinter ihm aus dem Nichts auftauchen würde. Kevin legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Hey, ganz ruhig! Dir passiert schon nichts. Wir sind auch noch da.«

»Und wenn er gerade beim Chefarzt ist, um mich hier wieder ... abzumelden?«

»Ich schätze mal, da wird er keinen Erfolg haben, schließlich bist du ja sowieso gegen seinen Willen hier, oder?«

»Keine Ahnung! Ich bin schließlich noch keine 18. Und er ist immer noch mein Erziehungsberechtigter!«

»Ach, ich glaub nicht, dass die dich so einfach mit ihm mitgehen lassen. Schließlich wissen die doch, was er mit dir angestellt hat«, versuchte ich Thomas zu beruhigen.

»Eigentlich dürfte der Typ gar nicht mehr das Sorgerecht für dich haben, so wie der dich verprügelt hat«, schaltete sich Gudrun ein. »Hast du überhaupt keine Ahnung, ob da nicht doch irgendwas mit dem Jugendamt gelaufen ist, oder so?«

Thomas schüttelte den Kopf. Langsam schien er sich wieder etwas zu beruhigen.

»Was sollen wir jetzt machen?« fragte er mit verzweifelter Stimme.

»Weiß ich auch nicht so genau. Auf jeden Fall bleiben wir jetzt alle bei dir. Gemeinsam schaffen wir das schon«, antwortete Kevin. So richtig wussten wir wohl alle nicht, was nun als nächstes passieren sollte.

»Gehen wir erst mal wieder rein«, schlug ich vor.

Als wir uns umdrehten und gerade zurück laufen wollten, fiel mein Blick auf den Klinikeingang. Wir waren zwar mindestens 50 Meter davon entfernt, aber wir standen momentan an einer Position, an der keine Bäume oder Büsche den Blick auf den Eingangsbereich versperrten.

Gerade öffnete sich die Schwingtüre und ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und einem Stiernacken trat ins Freie. Nach Thomas' Beschreibung konnte das eigentlich nur Gunther Hübner sein, der uns da entgegenkam.

»Scheiße!«, schrie Thomas auch gleich auf. »Das ist er!«

»Bleib ganz dicht bei uns, Thomas! Gegen uns Sechs kann er nichts ausrichten.«

Ich hoffte, dass ich damit Recht hatte. So wie dieser Typ aussah, konnte ich es mir durchaus vorstellen, dass er es auch mit uns allen aufnehmen würde. Und ob die Mädchen wirklich helfen konnten, falls es wirklich zum Äußersten kam, wagte ich zu bezweifeln. Naja, wenn man einmal von Gudrun absah. Der traute ich in dieser Hinsicht eigentlich schon was zu. Sie konnte ja ziemlich resolut sein.

»Scheiße, das ist wieder genau so, wie vor ein paar Wochen bei Stefan vorm Wohnheim. Da stand er auch auf einmal vor uns!«

Thomas war wieder richtig in Panik.

»Hey, diesmal kommt er damit nicht so einfach durch.«

Wenn ich mir da doch nur etwas sicherer gewesen wäre! Während wir wie angewurzelt stehen blieben, kam Thomas' Vater immer näher auf uns zu. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, schien er sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein.

»Da renn ich doch eine halbe Stunde durch das ganze Gebäude hier und suche dich überall ...«, fing er an zu sprechen, als er sich uns so weit genähert hatte, dass wir ihn verstehen konnten.

»... und dann seh ich da oben aus dem Fenster ...«

Er drehte sich ganz gelassen um und deutete auf die Fenster des Treppenhauses am Übergang zwischen den beiden Gebäudeflügeln.

»... und was seh ich da? Meinen Herrn Sohn, wie er gemütlich über den Parkplatz spaziert.«

Gunther Hübners Stimme war ruhig, fast freundlich. Wenn Thomas uns nicht schon längst erzählt hätte, was für ein Mistkerl das in Wirklichkeit war, hätte ich geglaubt, dass er einfach nur seinen Sohn besuchen wollte, um mal ein paar nette Worte mit ihm zu reden. Ein paar Meter vor uns blieb er stehen und musterte uns der Reihe nach. Ich sah ihn mir ebenfalls etwas genauer an, natürlich ganz vorsichtig, ohne ihn offen anzustarren. Schließlich wollte ich ihn nicht ausgerechnet auf mich aufmerksam machen. Thomas hatte so gar keine Ähnlichkeit mit diesem Typen. Ich konnte es kaum glauben, dass dieser Ochse von einem Mann Thomas' Vater sein sollte. Anscheinend hatte Thomas den Großteil seiner Erbanlagen von seiner Mutter abbekommen. War wohl auch besser so!

»Na, da hast du ja schon ein paar feine neue Freunde gefunden!« sagte der Metzgermeister nach einer Weile und sah dabei vor allem Nadine ausgesprochen geringschätzig an.

Dann betrachtete er Kevin und mich.

»Und ihr zwei? Seid ihr auch solche jämmerliche Schwuchteln wie mein missratener Sohnemann? Oder wisst ihr vielleicht gar nicht, dass ihr euch da mit einem armseligen Schwanzlutscher eingelassen habt, der nichts besseres zu tun hat, als seine eigene Familie in den Dreck zu ziehen?«

Inzwischen war Herrn Hübner die Zornesröte ins Gesicht gestiegen. Noch ehe einer von uns etwas antworten konnte, polterte er weiter: »Wegen dir habe ich jetzt eine Anzeige wegen Körperverletzung am Hals! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mir das einfach so von dir gefallen lasse?«

»Hau ab! Verschwinde!« platzte es schließlich aus Thomas heraus. »Was willst du hier? Ich hab dich nicht angezeigt!«

»Aber du hast mit den Bullen geredet und denen vorgelogen, dass ich dich angeblich halb tot geschlagen habe!«

»Ich hab denen nur die Wahrheit erzählt!«

»Ach, ein paar Schläge haben noch niemandem geschadet! Und du hast eine Tracht Prügel ja wohl dringend nötig! Reicht es denn noch nicht, dass du so ein kümmerlicher Schwächling bist? Muss ich mich wegen dir jetzt auch noch überall verspotten lassen? Dass mein Sohn so ein Perversling ist, der's lieber mit jungen Burschen treibt, weil er sich an die Weiber nicht rantraut?«

Ich fühlte mich ziemlich hilflos. Den anderen schien es ähnlich zu gehen. Keiner von uns brachte ein Wort heraus. Irgendwelche Diskussionsversuche mit diesem Mann waren wohl ohnehin zwecklos. So starrten wir Herrn Hübner einfach nur entsetzt an.

»Was willst du von mir? Warum bist du hier?« schrie Thomas seinen Vater an.

»Du kommst jetzt erst mal mit mir nach Hause, und dann zieh ich andere Saiten auf! Das wär ja noch schöner, wenn du auch hier noch lauter Lügen über deine Familie verbreitest.«

Gudrun war die erste, die zumindest eine Idee zu haben schien, wie wir mit der Situation umgehen konnten.

»Nadine!«, flüsterte sie. »Nimm Christina mit und lauf da außen rum zum Eingang zurück. Da kann er euch nicht aufhalten, ohne dass wir selbst an ihm vorbeikommen. Sagt drinnen Bescheid, dass wir hier ein Problem haben. Die sollen die Polizei rufen!«

Das mit der Polizei schien Herr Hübner mitbekommen zu haben.

»Polizei?« schrie er plötzlich. »Ihr wollt die Polizei holen? Na dann geht mal! Ich werd ja wohl noch meinen eigenen Sohn mitnehmen können, wann's mir passt. Da wird mich auch die Polizei nicht dran hindern!«

»Lauft los!« forderte Gudrun die beiden anderen Mädchen nochmals auf.

Diese gehorchten und liefen die Parkreihe zurück, aus der wir gerade gekommen waren, um dann über den Parallelweg zum Klinikeingang zu gelangen. Währenddessen hielt uns Thomas' Vater weiter in Schach. Irgendwie schien ihn unser Vorgehen aber doch ein wenig verunsichert zu haben. Anscheinend hatte er erwartet, dass er mit uns leichtes Spiel haben würde und dass wir ihm Thomas mehr oder weniger widerstandslos überlassen würden. Dass er hier auf Leute traf, die sich für seinen Sohn einsetzten, schien ihn zu überraschen.

»Los! Du kommst jetzt sofort mit mir mit, sonst gibt's Ärger«, rief er seinem Sohn noch einmal zu. Seine Stimme klang jetzt nicht mehr ganz so selbstsicher. Näher an uns heran schien er sich auch nicht zu trauen. Schließlich waren wir ja immer noch zu viert.

Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und rief ihm zu: »Sie müssen schon uns alle fertig machen, wenn Sie Thomas mitnehmen wollen!«

Gunther Hübner runzelte die Stirn.

»Was wollt ihr denn mit diesem nichtsnutzigen Schwächling? Was hat der euch für Lügen erzählt? Der lügt doch, wenn er nur sein Maul aufmacht. Glaubt dem bloß kein Wort!«

»Wir wissen, dass Sie ihn ständig verprügelt haben!« erwiderte Kevin wütend.

»Ach, die paar Ohrfeigen! Der hat's doch nicht anders verdient. Schaut ihn euch doch an, diesen jämmerlichen Schwanzlutscher!«

»Sie sollten besser Ihr Maul halten!« schrie ich zurück. »Ich bin auch einer von diesen ..., diesen ... Schwanzlutschern!«

Puh, dieses Wort kam aber schwer über meine Lippen. Naja, so was gehörte eigentlich auch nicht zu meinem Wortschatz. Und streng genommen war das ja auch nicht unbedingt die Wahrheit, schließlich hatte ich bisher noch nie das Vergnügen gehabt, an einem Schwanz lutschen zu dürfen. Ich war mir noch nicht mal sicher, ob das überhaupt so ein Vergnügen für mich wäre. Noch ehe ich diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, polterte Thomas' Vater wieder los.

»Ach! Deswegen setzt du dich so für ihn ein!« rief er mir zu. »Na, wenn die Klinikleitung erst einmal erfährt, welche perversen Spielchen ihr hier treibt, wirst du auch noch ganz schön Ärger bekommen. Oder was ist das hier für 'ne Scheißklinik?«

Inzwischen war am Haupteingang so einiges los. Ein paar Personen blickten zu uns herüber. Die nette Dame, die hinter der Rezeption arbeitete, kam auf uns zu. Nadine und Christina folgten ihr in ein paar Metern Abstand. Und dann war da auf einmal auch Frau Fröschl, die zu uns herüber eilte. Sie hatte ihren Mantel an und trug eine Tasche über der Schulter. Anscheinend hatten Nadine und Christina sie gerade abgepasst, als sie Feierabend machen wollte.

»Was ist los?« rief sie uns bereits aus einiger Entfernung zu.

»Das ist Thomas' Vater. Der will Thomas mitnehmen!« schrie ich zu ihr hinüber.

Herr Hübner blickte nach hinten über die Schulter, um zu sehen, wer da auf einmal auf ihn zukam. Seine Selbstsicherheit schien einen weiteren Knacks bekommen zu haben. So langsam bekam ich den Eindruck, der Typ fühlte sich nur aufgrund seines Körperbaus so stark und war in Wirklichkeit ein jämmerlicher Feigling.

»Sie sind Herr Hübner?« fragte Frau Fröschl ganz ruhig und gelassen.

»Ja, der bin ich. Ich bin gekommen, um meinen Sohn abzuholen. Das hier ist nichts für ihn. Der braucht eine harte Hand, hier wird er ja noch völlig verweichlicht.«

»So einfach geht das nicht«, erwiderte unsere Psychologin immer noch in ruhigem Ton. »Im Moment hat das Jugendamt für Thomas das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das sollten Sie eigentlich wissen! Bevor Sie Thomas hier herausholen können, müssen Sie sich zuerst an das Jugendamt wenden. Und die werden Ihnen kaum behilflich sein. Schon gar nicht nach dieser Aktion hier!«

Inzwischen waren auch der Chefarzt und zwei andere Männer zu uns herübergekommen. Einer davon war dieser Dr. Friedrichs.

»Was geht hier vor?« wollte Dr. Höfling wissen.

Frau Fröschl erklärte ihm kurz die Lage.

»Verlassen Sie bitte sofort das Grundstück«, forderte der Chefarzt schließlich Thomas' Vater auf. »Wenn Sie nicht sofort von hier verschwinden, lasse ich die Polizei rufen!«

»Was?« entfuhr es Herrn Hübner. »Das ist ja wohl nicht Ihr Ernst!«

Dass sich die Situation so entwickelte, schien er nicht erwartet zu haben. Mit einem nervös zitternden Finger deutete er auf Thomas und mich.

»Wissen Sie eigentlich, was diese beiden Schwulen hier in Ihrer Klinik so alles treiben?«

Dr. Höfling schien keinen Moment beeindruckt zu sein.

»Sie sollten jetzt wirklich besser verschwinden«, sagte er noch einmal.

Herr Hübner schien einzusehen, dass er verloren hatte. Nicht ohne Thomas noch einmal grimmig mit der Faust zu drohen, lief er zurück zu seinem Auto. Eine Minute später war er verschwunden.

Thomas war völlig durch den Wind. Verstört und zitternd stand er herum. Kevin und ich versuchten ihn zu beruhigen, indem wir ihm gut zuredeten. Gudrun versuchte es mit einer Umarmung, aber im Moment schien ihm das alles nicht zu helfen.

»Kommen Sie erst mal mit mir mit«, sagte schließlich Frau Fröschl mitfühlend zu ihm. »Wir reden eine Weile miteinander, okay?«

Thomas nickte. Wir liefen jetzt alle zurück in die Klinik. Während Frau Fröschl mit Thomas verschwand, stellte der Chef höchstpersönlich sicher, dass mit uns anderen alles in Ordnung war. Nachdem wir uns noch eine Weile in der Halle über den Vorfall unterhalten hatten, verschwanden wir auf unseren Zimmern. Bis zum Abendessen war noch eine knappe Stunde Zeit.

Als wir so auf unseren Betten lagen und noch einmal über das Geschehen auf dem Parkplatz redeten, kam Kevin plötzlich auf meinen Wutausbruch zu sprechen.

»Als du dem Typen zugerufen hast, dass du auch so ein Schwanzlutscher bist, ... naja, da bist du ganz schön rot dabei geworden.«

Ich druckste ein wenig herum.

»Naja, ... äh ... eigentlich, also eigentlich ... äh ... hab ich ja auch noch ... noch nie, naja, du weißt schon.«

»Ja, ist mir schon klar, dass du noch nie Sex mit 'nem Kerl hattest.«

»Hab ich dir aber bisher noch nie so direkt erzählt«, antwortete ich kleinlaut.

»Hey, ich kenn dich doch inzwischen gut genug, um das zu wissen!«

Ich zuckte hilflos mit den Schultern.

»Hey, schämst du dich eigentlich wegen allem, was mit deiner Sexualität zusammenhängt?« fragte Kevin mich nach einer Weile.

Musste er immer solche Fragen stellen? Wieder erntete er als Antwort nur ein Schulterzucken.

»Mann, ist doch nichts dabei, dass du noch Jungfrau bist!«

»Wenn du das sagst.«

»Ja, ist doch auch so!«

»Und, wie ist das bei dir?« wollte ich schließlich zögerlich wissen.

»Naja, bis vor 'nem halben Jahr hatte ich 'ne Freundin. Ist dann irgendwie wieder zu Ende gegangen. Noch bevor Marco den Unfall hatte.«

»Und, hattet ihr Sex miteinander?«

»Ja.«

»Siehst du? Und ich hab noch nicht mal 'nen anderen Jungen geküsst. Bei mir war da bisher noch gar nichts!«

»Na und? Ist doch auch nicht schlimm, irgendwann findest du schon den Richtigen. Für Schwule ist das halt nicht so einfach, jemanden zu finden, wie bei uns Heteros. Das wird schon. Du bist ja schließlich nicht gerade hässlich, oder? Und ansonsten kann man's echt mit dir aushalten!«

Der letzte Satz war wohl als Kompliment gemeint. So fasste ich das auf jeden Fall auf.

»Ja, das isses eigentlich auch gar nicht. Aber irgendwie, ... also irgendwie ...«

Ich machte eine Pause.

»Los, sag schon«, forderte mich Kevin auf. Seine Stimme klang ziemlich einfühlsam. So, als ob er genau wusste, dass es mir besser gehen würde, wenn ich das alles erst mal ausgesprochen hatte.

Ich drehte mich auf die Seite, so dass ich Kevins Reaktion nicht sehen musste, während ich ihm mein Gefühlsleben beichtete. Dann redete ich weiter.

»Ich weiß noch nicht mal, ob ich mit 'nem Jungen überhaupt so richtig Sex haben will! Du weißt schon, das was Schwule eben normalerweise so machen ... dem anderen einen blasen ... und Analverkehr und so.«

Ich machte eine kurze Pause, bevor ich weiterredete, diesmal leiser. Gerade so laut, dass Kevin es hören konnte.

»Eigentlich brauch ich nur jemanden, der mich liebt, der mich in den Arm nimmt und mit dem ich Kuscheln kann und so.«

Ich hatte mal wieder Tränen in den Augen. Eigentlich hatte ich ja gedacht, dass ich hier inzwischen genug geheult hatte. Scheinbar hatte ich mich da mal wieder geirrt.

»Hey, ist doch in Ordnung!« hörte ich Kevins Stimme plötzlich dicht hinter mir. Seine Hand berührte meine Schulter. Ich schluchzte.

»Verdammt, muss denn bei mir alles anders sein? Kann ich noch nicht mal normal schwul sein?«

Kevins Hand streichelte meine Schulter, während ich das Kopfkissen durchnässte.

»Du bist eben so wie du bist«, sagte Kevin leise hinter mir. Eine dümmere Antwort war ihm wohl nicht eingefallen! Aber was sollte er auch sonst sagen?

»Schäm dich deswegen doch nicht!«

Naja, das hörte sich schon besser an. Trotzdem schluchzte ich unkontrolliert weiter.

»Warum stehst du nicht einfach dazu?«

»Da bin ich ja wohl grade dabei, oder warum erzähl ich dir das wohl alles?« brachte ich mühsam heraus. Ein wenig Sarkasmus meinerseits tat jetzt ganz gut, sonst wäre ich Kevin wohl noch heulend um die Arme gefallen. Und das wäre jetzt einfach das falsche Signal von mir gewesen. Schließlich wusste ich ganz genau, dass er nicht das für mich empfand, was ich immer noch für ihn fühlte. Ich wollte ihm auf keinen Fall das Gefühl geben, dass ich ihn als meinen Boyfriend haben wollte. Damit würde er wohl kaum umgehen können. Ich fragte mich sowieso, warum er hier den Psychologen für mich spielte. Außerdem hatte ich mich inzwischen ja tatsächlich längst damit abgefunden, dass wir beide niemals mehr als brüderliche Freunde sein würden.

So blieb ich einfach noch eine Weile liegen und durchnässte weiter mein Kopfkissen, während mir Kevin sanft durchs Haar strich und mich zu beruhigen versuchte.

»Hey, du findest schon noch den passenden Freund. Dann könnt ihr das Ganze zusammen ganz behutsam angehen. Es soll schließlich auch noch andere Typen geben, die nicht nur auf Sex aus sind.«

Irgendwann hatte ich mich dann wieder unter Kontrolle und wischte mir die Tränen ab.

»Scheiße! Tut mir echt leid, dass ich hier so rumheule«, sagte ich, als ich mich aufrichtete und mich dann neben Kevin auf die Bettkante setzte. Der hatte wohl schon vor einer ganzen Weile hinter meinem Rücken Platz genommen.

»Hey, das musste eben mal aus dir raus.«

»Naja, ich will aber nicht, dass du jetzt denkst, dass ich ... mit dir ..., naja, du weißt schon.«

Das musste ich jetzt endlich mal klarstellen.

Es dauerte eine Weile, bis Kevin reagierte.

»David, sorry, ich bin echt immer für dich da ... auch wenn wir hier wieder raus sind ... aber mehr, ... mehr darfst du von mir ...«

Ich nickte, so dass er das 'nicht erwarten' erst gar nicht mehr aussprechen musste. Ich sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, mir das jetzt mitzuteilen. Obwohl es weh tat, war ich froh, dass diese Sache zwischen uns nun ein für alle mal klar war.

Kevin klopfte mir noch einmal auf die Schulter und stand dann auf.

»Ist langsam Zeit für's Abendessen«, meinte er.

»Oh Mann, ich seh sicher ziemlich verheult aus.«

Ich sah im Bad in den Spiegel. Meine Augen waren ganz schön rot.

»Wir können auch erst später runter gehen«, schlug Kevin vor.

In diesem Moment klopfte es an der Zimmertür. Wer auch immer das war, ich wollte nicht, dass mich jemand so sah. Auf neugierige Fragen hatte ich jetzt wirklich keine Lust.

Während ich mich wieder auf mein Bett verzog, öffnete Kevin die Türe. Es war Thomas.

»Geht's dir wieder einigermaßen?« wollte Kevin sofort von ihm wissen.

Naja, Thomas hatte heute weit schlimmeres durchgemacht als ich. Was kümmerte es mich also, ob er mich jetzt so verheult sah oder nicht?

»Bring ihn mit rein, Kevin!« rief ich deshalb um die Ecke zur Tür.

Sofort als er eintrat stellte ich fest, dass Thomas auch nicht besser aussah als ich selbst. Er schien auch überhaupt nicht zu bemerken, dass ich ebenfalls geweint hatte.

»Ich war so lange bei der Fröschl«, berichtete er uns. »Die is echt gut! Auch wenn ich fast die ganze Zeit über geheult hab und deswegen nicht alles mitbekommen hab, was sie so gesagt hat.«

Ja, unsere Psychologin hatte heute auch bei mir sämtliche Sympathiepunkte, die sie in der Zwischenzeit einmal verloren hatte, wieder mehr als gutgemacht. Ihre Aktion da draußen hatte mich ganz schön beeindruckt. So ruhig, wie die geblieben war, während mir gewaltig die Knie geschlottert hatten!

Thomas erzählte ein wenig von dem, was im Zimmer von Frau Fröschl abgelaufen war. Sie hatte ihm klargemacht, dass sein Vater im Moment nicht über seinen Aufenthaltsort bestimmen durfte und dass auch keine Aussicht darauf bestand, dass dies noch einmal der Fall sein würde. Schließlich würde Thomas ja ohnehin bald 18 werden. Sie hatte für ihn einen ersten Gesprächstermin mit der Sozialarbeiterin der Klinik vereinbart. Die würde dann regeln, wie es für Thomas nach dem Klinikaufenthalt weitergehen sollte.

»Hat sie was gesagt wegen ..., naja, wegen den Sexorgien die ihr beide hier angeblich veranstaltet?« wollte Kevin irgendwann wissen.

An diese Anschuldigung von Thomas' Vater hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht.

Thomas nickte.

»Sie hat gesagt, ich soll das ganz schnell wieder vergessen.«

»Die hat eben inzwischen auch schon gemerkt, was für ein verklemmter Typ ich bin«, sagte ich mit einem gequälten Lächeln.

Die Bemerkung konnte ich mir einfach nicht verkneifen, auch wenn ich von Thomas irritierte Blicke erntete.

Kevin grinste mich an. Dadurch guckte Thomas noch verwirrter. Jetzt konnte ich das Lachen nicht mehr zurückhalten und prustete los. Wenn wir drei hier zusammen im Zimmer waren, schien es immer was zum Lachen zu geben. Sollten wir vielleicht öfters machen?

 

Kapitel 11 - Nachwehen

Gunther Hübner stand direkt vor mir. Er blickte mich grimmig an. Dann ballte er seine rechte Hand zur Faust und holte aus. Ich konnte mich nicht bewegen und stand wie angewurzelt vor ihm. Seine Faust schnellte nach vorn. Irgendwie schaffte ich es, mit dem Kopf auszuweichen. Meine Füße schienen im Boden einbetoniert zu sein. Die Faust verfehlte mich nur um Haaresbreite. Von irgendwoher hörte ich ein Klopfen.

»David?« rief jemand leise. »David?«

Das hörte sich fast so an wie die Stimme von Thomas. Nur irgendwie gedämpft, wie aus weiter Ferne. Noch einmal klopfte es. Hatte Gunther Hübner seinen Sohn wieder irgendwo eingesperrt?

Irgendetwas rüttelte an meiner Schulter.

»David!« sagte eine Stimme direkt neben mir.

Was war jetzt los? War das nicht die Stimme von Kevin?

»David, wach auf!«

Ich öffnete die Augen. Es war dunkel. Wieder klopfte es.

»David? Kevin?«, hörte ich Thomas leise rufen. Das klang immer noch merkwürdig dumpf.

»Bist du wach?« wollte Kevins Stimme neben meinem Ohr wissen.

»Ja, was'n los?« antwortete ich schlaftrunken.

»Thomas ist draußen vor der Tür! Machst du auf oder soll ich gehen?«

»Ich geh schon.«

Ich stand auf und rieb mir die Augen. Als nächstes schaltete ich das Licht ein. Mann, das blendete! Ich blickte noch schnell auf meinen Wecker. 1:47 Uhr. Dann tappte ich zur Zimmertüre und sperrte leise auf. Es war natürlich völlig unnötig, die Türe so sachte aufzuschließen. Wenn die Bewohner der Nachbarzimmer noch nicht durch Thomas' Klopfen und Rufen geweckt worden waren, dann würde sie wohl kaum das Geräusch einer sich öffnenden Zimmertüre stören.

Thomas schlich draußen im Flur nervös auf und ab, nur mit einem hautengen schwarzen T-Shirt und Shorts bekleidet. Wenn ich nicht schon vorher gewusst hätte, dass er das war, hätte ich ihn im ersten Moment gar nicht erkannt. Aber das lag wohl vor allem an der spärlichen Notbeleuchtung im Gang.

Als er endlich bemerkte, dass ich inzwischen die Türe geöffnet hatte, sah er mich mit seinem Dackelblick an, der mir inzwischen schon mehrmals an ihm aufgefallen war. Eigentlich fand ich ihn so ja ganz süß. Wenn er nur nicht gleichzeitig so einen mitleiderregenden Eindruck gemacht hätte!

»Hey, Thomas, was ist los?« wollte ich wissen.

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich kann einfach nicht schlafen«, sagte er leise.

»Komm erst mal rein, okay?«

»Danke.«

Ich schloss die Türe hinter ihm und führte ihn ins Zimmer.

»Sorry, aber ich halt's so allein in meinem Zimmer heut einfach nicht aus«, entschuldigte er sich.

Dann entdeckte er die beiden Matratzen, die auf dem Zimmerboden nebeneinander lagen, und riss den Mund groß auf.

»Ich dachte, ihr ...«, stammelte er.

Kevin hatte sich aufgesetzt und grinste ihm entgegen.

»Was du schon wieder denkst ...«, entgegnete er kopfschüttelnd.

»Willst du die Nacht über bei uns bleiben?« fragte ich schnell, damit erst gar keine längeren Diskussionen um die Matratzenanordnung aufkommen konnten.

Thomas nickte.

»Wenn ihr nichts dagegen habt?«

»Ach wo! Klar kannst du hier bleiben«, antwortete Kevin sofort. »Du darfst dich nur nicht dran stören, dass ich ab und zu mal schreiend aufwache, wenn ich gerade wieder 'nen Albtraum hatte.«

»Oh!« erwiderte Thomas hilflos. Ihm war deutlich anzusehen, dass er nicht wusste, wie er auf Kevins Aussage reagieren sollte.

»Naja, inzwischen hab ich die ja nicht mehr so oft«, sagte Kevin dann auch sofort und fügte mit einem breiten Grinsen noch hinzu: »Außerdem liegt David ja gleich neben mir und kann mich dann immer trösten.«

Diese Bemerkung war mal wieder typisch für Kevin. Irgendwie neigte er dazu, ernste Situationen ins Lächerliche zu ziehen, seitdem es ihm besser ging. Immerhin schaffte er es damit, die angespannte Situation etwas aufzulockern.

Thomas schien derweil nicht so recht zu wissen, ob Kevins letzter Satz auch wirklich ernst gemeint war.

»Liegt ihr deswegen so nebeneinander?« fragte er deshalb.

»Mmh«, antwortete ich etwas verlegen. Ich war mir eigentlich schon längst nicht mehr sicher, ob Kevin hier mit mir auf dem Boden schlief, weil er ab und zu immer noch meinen Trost brauchte, oder ob er das inzwischen nur noch mir zuliebe tat, weil er genau wusste, dass ich es mochte, ihm so nahe zu sein. Vielleicht sollten wir das in Zukunft deshalb lieber wieder sein lassen. Ich beschloss, die nächste Nacht wieder in meinem richtigen Bett zu verbringen. Wahrscheinlich wartete Kevin nur darauf, dass ich das tat.

Seine Stimme unterbrach abrupt meine Gedanken.

»Gehst du noch deine Bettdecke und dein Kopfkissen holen, oder willst du zu David unter die Decke?« fragte er Thomas.

Auch bei diesem Satz hatte Kevin wieder ein breites Grinsen im Gesicht, doch diesmal wäre ich ihm dafür am liebsten an die Gurgel gesprungen.

Was sollte das jetzt wieder? Wollte er mich mit Thomas verkuppeln? Oder war das wieder nur einer seiner Scherze, die er ab und zu machte, ohne vorher großartig darüber nachzudenken?

»Ähm, ja, ich geh schnell«, stammelte Thomas sofort und war in Windeseile durch die Tür verschwunden.

»Musste das jetzt sein?« fragte ich Kevin ärgerlich, nachdem wir wieder unter uns waren.

»Also ich fand's witzig!«

»Ich nicht! Musst du ständig solche Bemerkungen machen?«

Dann war Thomas mit seinem Kopfkissen unter dem Arm auch schon wieder zurück. Ein Ende der Bettdecke hatte er über der Schulter, das andere Ende schleifte hinter ihm über den Boden. Irgendwie erinnerte er mich so an Linus von den Peanuts, der immer seine Schmusedecke hinter sich her zog. Es schien Thomas auch nicht weiter zu stören, dass er so den ganzen Dreck vom Boden aufsammelte. Naja, hier wurde ohnehin jeden Tag vom Reinigungspersonal gründlich gesaugt. Allzu viel Schmutz konnte also gar nicht herumliegen.

Während Thomas sein Bettzeug auf die Matratzen warf, schloss ich noch schnell die Zimmertüre ab.

»Willst du in die Mitte?« hörte ich Kevin fragen.

Als ich zurück ins Zimmer kam, sah mich Thomas unschlüssig an. Ich zuckte mit den Schultern.

»Ja, du kannst ruhig zwischen uns beide.«

So musste ich wenigstens nicht dicht neben Kevin liegen. Irgendwie wäre mir das jetzt unangenehm gewesen, wo ich mich doch gerade dazu durchgerungen hatte, in Zukunft nicht mehr neben ihm auf dem Boden zu schlafen.

»Oh Mann, ich glaub allein in meinem Zimmer wär ich noch durchgedreht. Ich hatte die ganze Zeit über Angst, dass mein Vater durch die Tür kommt.«

Thomas' Bemerkung erinnerte mich an meinen Traum von vorhin.

»Hey, das kann ich verstehen. Ich hab vorhin von ihm geträumt. Der wollte mir grade eine reinhauen, als du geklopft hast. Gut, dass ich da aufgewacht bin! Wer weiß, wie der Traum sonst weitergegangen wäre?«

Thomas' Vater hatte bei mir wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Solche Begegnungen wie heute wünschte ich mir wirklich nicht alle Tage!

Thomas hatte sich bereits neben Kevin gelegt und sich zugedeckt. Es schien ihm immer noch etwas unangenehm zu sein, dass er mitten in der Nacht einfach hereingeplatzt war, denn er sah mich wieder mit seinem Dackelblick an.

Bevor ich das Licht ausschaltete, lächelte ich ihm deswegen noch einmal zu. Dann legte ich mich neben ihn und schlüpfte unter meine Bettdecke.

Da lag ich also nun, nur ein paar Zentimeter entfernt von einem anderen schwulen Jungen, gemeinsam in einem Bett. Naja, sofern man diese zwei Matratzen überhaupt als Bett bezeichnen konnte. Aber das war nun wirklich nicht das Entscheidende. Viel wichtiger war die Frage, was nun passieren würde. Würden wir einfach so einschlafen oder würde sich in dieser Nacht auch noch etwas anderes zwischen uns beiden abspielen? Irgendwas im sexuellen Bereich? Immerhin hatte Thomas da schon wesentlich mehr Erfahrung als ich, obwohl er zwei Jahre jünger war. Mit Stefan hatte er sicher schon so einiges ausprobiert. Aber das war jetzt bereits einige Wochen her. Vielleicht fehlte ihm das ja inzwischen? War er vielleicht deswegen zu uns ins Zimmer gekommen?

Was machte ich mir da nur für Gedanken? Thomas war einfach nur verängstigt und wollte die Nacht nicht alleine in seinem Zimmer verbringen. Das war alles. Außerdem lag da ja auch noch Kevin neben uns. Wir würden also wirklich nur nebeneinander nächtigen.

Im Moment war Thomas allerdings noch viel zu aufgewühlt, um einschlafen zu können. Deshalb unterhielten wir uns noch eine Zeitlang im Dunkeln. Zuerst redeten wir wieder über die Ereignisse vom Nachmittag. Dann schilderte uns Thomas noch einmal in allen Einzelheiten den Vorfall vor dem Personalwohnheim, wo sein Vater ihm und Stefan vor einigen Wochen aufgelauert hatte. Es schien ihm gut zu tun, mit uns noch mal darüber sprechen zu können.

»Und du hattest mit Stefan seitdem echt keinen Kontakt mehr?« wollte ich irgendwann wissen.

»Nein«, antwortete Thomas kleinlaut.

»Warum bist du nie zu ihm hin? Ich meine, in der Zeit, als du bei deiner Oma gewohnt hast.«

»Mann, ich bin in der Zeit kaum aus dem Haus! Denkst du, ich wollte irgendwo meinem Vater über den Weg laufen?«

Dieser Mistkerl hatte der Psyche seines Sohnes offensichtlich mehr Schaden zugefügt, als ich bisher gedacht hatte. Thomas schien wahnsinnige Angst vor ihm zu haben. Kein Wunder, dass er an diesem Nachmittag nach den Ereignissen auf dem Parkplatz kaum zu beruhigen gewesen war.

»Und warum hast du nie versucht, Stefan anzurufen?«

»Naja, in seinem Zimmer im Wohnheim hat er kein Telefon.«

»Hey, du hättest ihn sicher irgendwie erreichen können. Während der Arbeitszeit auf seiner Station oder so.«

Thomas druckste eine Weile herum.

»Ich hatte halt Angst, dass er einfach auflegt. Dass er nichts mehr von mir wissen will. Oder sagt, dass er mich jetzt hasst oder so.«

»Warum sollte er dich denn hassen?«

»Naja, nach dem, was mein Vater da veranstaltet hat ...«

»Das war doch nicht deine Schuld! Und wenn Stefan dich wirklich geliebt hat, dann hasst er dich nicht von einem Moment auf den anderen.«

Als Thomas daraufhin nichts sagte, fragte ich: »Ihr wart doch richtig ineinander verliebt, oder?«

»Ja«, erwiderte Thomas nach einer Weile mit tränenerstickter Stimme.

»Oh Mann, du vermisst ihn ganz schön, oder?«

Thomas brachte kein Wort mehr heraus und schluchzte unkontrolliert. Mussten sich hier denn ständig solche Dramen abspielen?

Als ich im Dunkeln meinen Arm um ihn legen wollte, war da schon Kevins Hand. Im Trösten hatten wir inzwischen wohl beide Übung.

»Hey, du solltest Stefan einfach mal anrufen. Wer weiß, was der sich für Sorgen um dich macht?«

»Meinst du?« fragte Thomas, als er sich wieder einigermaßen im Griff hatte.

»Ja, stell dir nur mal vor! Der hat seit Wochen nichts mehr von dir gehört und hat keine Ahnung, wie's dir so geht. Er konnte dich ja die ganze Zeit über nicht erreichen. Er wusste ja nicht mal, wo du überhaupt bist. Zumindest, wenn er nicht mitbekommen hat, dass du im Krankenhaus warst. Dass du dann 'ne Weile bei deiner Oma rumgehockt bist, konnte er ja schließlich nicht ahnen, oder? Von der Klinik hier weiß er auch nichts. Und dass er sich nicht traut, bei deinen Eltern anzurufen und dort nach dir zu fragen, ist ja wohl klar nach dem Vorfall vor dem Wohnheim.«

»Und wenn er doch nichts mehr von mir will? Vielleicht hat er ja schon 'nen Neuen?«

Ich schien Thomas noch nicht ganz überzeugt zu haben.

»Hey, das glaub ich nicht! Naja, und wenn, dann musst du damit eben irgendwie klarkommen. Aber dann hast du wenigstens Gewissheit.«

»David ist ja da, der kann dich dann trösten«, schaltete sich Kevin ein. »Der kann das nämlich ganz gut!«

»Kevin! Lass die dummen Bemerkungen!«

»Okay, okay! Du kannst dich dann bei uns beiden ausheulen, wenn's dir danach ist.«

Manchmal hätte Kevin ruhig etwas mehr Taktgefühl haben können. Aber bei Thomas schienen seine Worte die richtige Wirkung zu haben.

»Hey, ich hatte noch nie solche Freunde wie euch! Wir sind doch Freunde, oder?«

»Na klar!«

»Ja, sind wir!«

Nachdem wir das geklärt hatten, konnten wir dann doch alle einschlafen.

 

Kapitel 12 - Kontaktaufnahme

Am nächsten Morgen war ich der erste, der aufwachte. Leise rollte ich mich aus dem Bett, um Thomas und Kevin nicht zu wecken. Die beiden sahen richtig süß aus, wenn sie so nebeneinander lagen und schliefen. Ich ließ die beiden allein und schlich in die Dusche.

Als ich zurückkam, war nur noch Kevin im Raum.

»Morgen, David! Thomas ist wieder zurück in sein Zimmer. Ich glaub, der musste erst mal was gegen seine Morgenlatte unternehmen. Scheint ihm hier gut gefallen zu haben, so zwischen uns.«

Kevin grinste wieder bis über beide Ohren. Ich lächelte gequält zurück.

»Fragt sich nur, ob's ihm wegen mir oder wegen dir so gut gefallen hat«, antwortete ich schließlich.

»Na wegen dir natürlich!«

»Sei dir da mal nicht so sicher! Außerdem isses ja wohl ganz normal, dass man morgens 'ne Erektion hat, oder?«

Auch wenn ich mich diesmal bemühte, beim Thema Sexualität etwas mehr Humor zu zeigen, wollte ich diese Diskussion doch schnellstmöglich wieder beenden.

»Außerdem hat er heute Nacht sicher von Stefan geträumt. Bin ja gespannt, ob er ihn wirklich anruft.«

»Naja, dann wird das wohl nichts mit euch beiden!«

»Ich glaub, da würde auch ohne Stefan nichts daraus werden.«

»Thomas ist nicht gerade dein Typ, oder?«

»Naja, nicht so ganz. Mit diesem Dackelblick find ich ihn immer ganz süß, aber sonst ... Fängt schon damit an, dass er raucht.«

»Hey, wart's erst mal ab! Man kann nie wissen, wie sich das so entwickelt. Wenn Stefan ihm 'ne Abfuhr erteilt, dann braucht er jemanden wie dich!«

»Ach, das wird schon wieder zwischen den beiden!«

Damit war das Thema dann endlich erledigt.

Als ich mit Kevin zum Frühstück hinunter in den Speisesaal ging, trafen wir Thomas vor dem Aufzug.

»Und? Alles klar bei dir?« fragte ich ihn.

»Ja. Danke, dass ich bei euch schlafen konnte.«

»Schon okay!«

Die Fahrstuhltüre öffnete sich und wir traten hinein. In der Kabine sprach ich Thomas dann auf Stefan an. Ich hatte das Gefühl, dass diese Sache nun schnellstmöglich in Gang gebracht werden musste.

»Wann willst du jetzt Stefan anrufen?«

Thomas sah mich unsicher an.

»Du wirst ihn doch anrufen?« fragte ich noch einmal.

Thomas zuckte mit den Schultern. Anscheinend hatte er inzwischen schon wieder den Mut verloren.

»Hey, ich dachte wir hätten das geklärt?«

»Ich hab ja nicht mal die Nummer vom Krankenhaus, wo er arbeitet.«

»Dafür gibt's die Auskunft!«

Jetzt schien Thomas keine Ausrede mehr einzufallen.

»Naja, mal sehen.«

»Du rufst ihn also an?«

Thomas nickte.

»Dann machst du das am besten gleich nach dem Frühstück, okay?«

Richtig begeistert schien er immer noch nicht zu sein.

»Kann wenigstens einer von euch bei der Auskunft anrufen? Ich bin da nicht so gut drin, mich am Telefon durchzufragen.«

Ich willigte ein, das für ihn zu erledigen. Für den Vormittag hatte ich ohnehin nichts anderes vor und Kevin musste später ja zu dieser komischen Maltherapie und zu Frau Fröschl.

Nach dem Frühstück ging ich deshalb gleich mit zu Thomas aufs Zimmer. Das Reinigungspersonal war dort gerade fertig geworden. Wir konnten also ungestört am Telefon nach Stefan fahnden.

Als erstes war die Auskunft an der Reihe. All die lustigen Werbespots, in denen sie einem die verschiedensten Eselsbrücken anboten, mit deren Hilfe man sich angeblich ganz einfach ihre Nummer merken konnte, hatten bei mir offensichtlich ihre Wirkung verfehlt. Die Werbemacher hatten wohl nicht damit gerechnet, dass es Leute wie mich gab, die an Verona Feldbusch rein gar nichts erotisch fanden. Ich konnte mich zwar an irgendwas mit 11 und 88 erinnern, aber da kam sicher auch noch die eine oder andere weitere Ziffer vor, die mir inzwischen wieder entfallen war. Alles auch noch in die richtige Reihenfolge zu bringen, war dann noch ein ganz anderes Problem.

Zum Glück konnte mir Thomas da weiterhelfen. Bei ihm war die Nummer wohl hängen geblieben.

»Naja, ich hatte bei meiner Oma halt nichts zu tun. Was soll man da außer Fernsehen sonst machen?«

Schnell hatte ich eine nette Dame am Hörer, die mir bereitwillig ihre Dienste anbot. Dabei ging es natürlich nur um das Heraussuchen der einen oder anderen Telefonnummer. Ich erkundigte mich nach der Cityklinik in Langenbergen.

Cityklinik. Das war auch so ein neudeutscher Name. Thomas hatte mir erzählt, dass es sich dabei eigentlich um ein ziemlich altes Gemäuer handelte. Der Name passte also wie die Faust aufs Auge. Bis vor kurzem hatte das Krankenhaus auch einfach nur 'Krankenhaus' geheißen, aber scheinbar war der Name dann irgendwann nicht mehr gut genug gewesen. So eine Umbenennung war wohl eben einfach billiger als eine gründliche Renovierung. Jedenfalls sorgte der neue Name beim Klinikpersonal seitdem für Erheiterung. Das hatte Thomas zumindest von Stefan gehört.

Die Telefonnummer zu erhalten war jedenfalls kein Problem. Die Auskunft kannte wohl bereits die neue Bezeichnung. Nach einer halben Minute hatte ich ein paar unleserliche Ziffern auf einen Zettel gekritzelt.

»Kannst du da auch anrufen und dich nach Stefan durchfragen?« wollte Thomas kleinlaut wissen, als ich wieder aufgelegt hatte.

»Ja, kann ich machen«, willigte ich ein. »Aber du solltest mir vorher besser sagen, wie Stefan mit Nachnamen heißt.«

»Kunze«, antwortete Thomas verlegen.

Ich wählte die Nummer der Cityklinik. Damit Thomas mithören konnte, schaltete ich den Lautsprecher ein. Nach einer Weile meldete sich eine männliche Stimme am anderen Ende.

»Krankenhaus ... äh ... Cityklinik Langenbergen. Guten Tag.«

»Guten Tag. Wir suchen nach einem Stefan Kunze, der bei Ihnen als Krankenpflegeschüler arbeitet. Können Sie uns da weiterhelfen?«

»Wohnt er hier im Wohnheim?«

»Ja.«

»Moment, dann hab ich ihn hier auf meiner Liste.«

Für einen Moment setzte Stille ein. Dann hörte ich irgendetwas klappern. Schließlich meldete sich die Stimme wieder.

»Einen Moment noch bitte! Ich versuche, ihn über die Sprechanlage im Wohnheim zu erreichen.«

Dann hörte ich eine nervtötende Warteschleifenmelodie. Eine Frauenstimme hauchte immer wieder »Bitte warten!«

»Hören Sie?« meldete sich nach einer knappen Minute die Stimme wieder.

»Ja.«

»Er scheint nicht in seinem Zimmer zu sein. Sonst hätte ich sie mit dem Telefon auf seiner Etage verbinden können.«

»Können wir ihn vielleicht auf seiner Station erreichen?«

»Dann müsste ich wissen, auf welcher Station er arbeitet.«

Ich sah Thomas fragend an. Der zuckte nur mit den Schultern.

»Keine Ahnung«, sagte ich in den Hörer. »Können Sie das nicht herausfinden?«

»Ich kann Sie höchstens mit der Personalabteilung verbinden.«

»Ja, bitte.«

Wieder wurde ich in die Warteschleife gelegt. Dann meldete sich eine Frauenstimme.

»Personalabteilung. Wolters.«

»Guten Tag, könnten Sie mir bitte sagen, auf welcher Station Stefan Kunze arbeitet?«

»Einen Moment bitte.«

Wieder hörte ich Geräusche im Hintergrund. Frau Wolters tippte wohl auf einer Computertastatur herum.

»Herr Kunze arbeitet auf Station C3«, sagte sie nach einer Weile. »Aber zur Zeit hat er Urlaub.«

»Urlaub?« fragte ich zurück. Das hatte uns gerade noch gefehlt.

»Ja.«

»Haben Sie irgendeine Adresse oder Telefonnummer, wo ich ihn vielleicht erreichen kann?«

»Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Die persönlichen Daten unseres Personals darf ich nicht herausgeben.«

»Und Sie können da nicht mal 'ne Ausnahme machen? Es ist wirklich wichtig!«

»Tut mir leid.«

Ohne mich zu verabschieden legte ich den Hörer auf. So schwierig hatte ich mir das nicht vorgestellt. Das artete ja richtig in Detektivarbeit aus.

»Was machen wir jetzt?« fragte Thomas. Er sah ziemlich verzweifelt aus.

»Weißt du vielleicht, wo Stefan sein könnte?« wollte ich von ihm wissen. »Oder kennst du irgendjemanden von seinen sonstigen Bekannten?«

Thomas schüttelte den Kopf.

»Und seine Eltern? Die sollten doch wohl wissen, wo er steckt?«

»Die wohnen in irgend 'nem kleinen Kaff. Ich weiß noch nicht mal, wie der Ort heißt. Ich glaub die haben 'nen Bauernhof oder so was.«

Eigentlich hatte ich angenommen, dass Thomas etwas mehr über Stefan wusste. Aber vielleicht hatte der ja auch Probleme mit seinen Eltern und hatte dieses Thema deshalb nie so genau angesprochen. Oder Thomas hatte einfach nicht richtig zugehört. Eine Familie Kunze ausfindig zu machen, würde auf jeden Fall ziemlich schwierig werden. Kunzes gab es schließlich wie Sand am Meer. Naja, wenigstens hieß Stefan nicht Meier, Müller oder Schmidt.

»Warte mal, ich hab da 'ne Idee«, sagte ich, nachdem ich eine Weile überlegt hatte.

Noch einmal wählte ich die Nummer der Cityklinik. Es meldete sich wieder die männliche Stimme von vorhin. Ich bat darum, mit Station C3 verbunden zu werden. Nach einer Weile meldete sich die Stimme einer jungen Frau.

»C3, Lernschwester Melanie.«

»Äh, hallo, ist Stefan da?« fragte ich. Vielleicht bekam ich auf diese Weise eher eine Auskunft.

»Meinst du Stefan Kunze?«

Das hier schien tatsächlich einfacher zu werden.

»Ja, genau. Ist er da?«

»Nee, der hat Urlaub.«

»Weißt du, wie ich ihn erreichen kann?«

»Ich glaub der ist zu seinen Eltern. Der war so komisch drauf in letzter Zeit, richtig fertig mit den Nerven. Dann hat er sich krank gemeldet und danach gleich Urlaub genommen. Keine Ahnung, was mit dem passiert ist.«

»Hast du die Telefonnummer oder die Adresse seiner Eltern?«

»Moment, die Telefonnummer muss hier eigentlich irgendwo sein.«

Es klapperte, als Melanie den Hörer zur Seite legte.

Ich sah Thomas an. Der saß mir mit offenem Mund gegenüber. Ich fragte mich, was Stefan in den letzten Wochen so alles durchgemacht hatte. Thomas schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen.

»Hey, ich hab die Nummer hier«, hörte ich plötzlich Melanies Stimme wieder.

»Wow, gut. Schieß los!«

Ich notierte die Nummer auf dem Zettel unterhalb der Klinikrufnummer. Diesmal bemühte ich mich, etwas leserlicher zu schreiben. Ich wollte nicht noch einmal auf der Station anrufen müssen, nur weil ich mein Gekrakel nicht mehr entziffern konnte. Schließlich konnte ich nicht wissen, ob dann wieder jemand abnehmen würde, der so auskunftsfreudig wie diese Melanie war.

»Danke, du hast mir echt weitergeholfen«, sagte ich schließlich.

»Bist du ein Freund von Stefan?«

»Ja, könnte man so sagen«, log ich.

»Du weißt auch nicht, was ihm fehlt, oder?« wollte Melanie mit besorgter Stimme wissen.

Natürlich konnte ich ihr jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen.

»Ich schätze mal, dem wird's bald wieder besser gehen«, sagte ich deshalb nur.

Dann verabschiedete ich mich von der jungen Lernschwester. Hatte ihr Stefan nie etwas von Thomas erzählt? Sie schien Stefan ja eigentlich ganz gut zu kennen. Zumindest machte sie sich Sorgen um ihn.

»So, das ist jetzt deine Sache«, sagte ich zu Thomas und drückte ihm den Hörer in die eine und den Zettel mit der Telefonnummer in die andere Hand. Dann stand ich auf. Für das, was jetzt kam, wollte ich ihn lieber alleine lassen.

»Meinst du, Stefan ist wegen mir so fertig?« wollte er von mir wissen.

»Weswegen sonst?«

»Oh Scheiße! Das hab ich echt nicht gewollt.«

»Hey, das wird schon wieder, wenn du dich erst mal bei ihm gemeldet hast.«

»Mann, warum hab ich das nur nicht früher gemacht?«

Das fragte ich mich auch. Dann wäre wohl beiden einiger Kummer erspart geblieben.

»Jetzt wähl endlich!« forderte ich ihn auf und wollte schon das Zimmer verlassen.

»Was soll ich da denn sagen?« hielt er mich zurück. »Seine Eltern wissen doch überhaupt nichts von mir. Die wissen ja nicht mal, dass Stefan schwul ist.«

»Frag einfach nach ihm. Die werden dir dann schon irgendwas sagen. Wenn Melanie Recht hat und er wirklich bei seinen Eltern ist, dann geht er ja vielleicht sogar selber ans Telefon.«

Thomas' Finger zitterten vor Aufregung, als er endlich die Nummer eintippte. Der Lautsprecher des Apparats war immer noch eingeschaltet. Am anderen Ende der Leitung klingelte es mehrmals.

»Kunze«, meldete sich dann eine Frauenstimme. Wahrscheinlich war das Stefans Mutter.

»Äh ... hallo ... ist Stefan da?« fragte Thomas zögerlich.

»Ja, der ist in seinem Zimmer. Wer ist denn da?«

»Äh, ich bin ... Thomas.«

»Thomas? Du bist der ... Freund ... von Stefan?«

Thomas sah mich verwundert an. Zumindest Stefans Mutter schien inzwischen etwas von der Homosexualität ihres Sohnes erfahren zu haben. Sogar über Thomas wusste sie Bescheid.

»Ja«, sprach dieser ängstlich in den Hörer.

Er schien sich bereits auf ein Donnerwetter oder so etwas ähnliches einzustellen. Was stattdessen aus dem Lautsprecher kam hatte er so wohl nicht erwartet.

»Thomas! Gott sei Dank! Endlich meldest du dich! Der Stefan hat sich ja solche Sorgen um dich gemacht. Der kann gar nimmer auf die Arbeit deswegen. Warte! Ich hol ihn schnell!«

Die Frauenstimme klang ganz aufgeregt. Thomas sah mich an. Tränen schossen ihm in die Augen. Seine Unterlippe bebte.

Es klapperte aus dem Lautsprecher, als Frau Kunze den Hörer neben das Telefon legte. Dann hörte man sie laut »Stefan! Stefan! Komm schnell runter! Der Thomas ist am Telefon!« schreien.

Ich streichelte Thomas durchs Haar. Die Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich beugte mich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Hey, jetzt wird alles gut«, sagte ich leise.

Nun hörte man, wie jemand schnell eine Treppe herunter lief. Ich schaltete den Lautsprecher ab.

»Stefan?« sagte Thomas im nächsten Moment mit tränenerstickter Stimme. Dann begann er unkontrolliert zu schluchzen. Am anderen Ende der Leitung schien es jemandem ähnlich zu gehen.

Ich wischte mir ebenfalls die Tränen aus den Augen. Mann, das war mal wieder eine ergreifende Situation.

Es dauerte bestimmt eine Minute, bis Thomas sich wieder einigermaßen im Griff hatte.

»Ach, mir geht's ganz gut«, sprach er schließlich in den Hörer.

Es folgte eine Pause.

»Ich bin hier in so 'ner komischen Klinik. Bad Neuheim oder so.«

Jetzt war es aber wirklich an der Zeit, dass ich die beiden alleine ließ. Ich deutete mit dem Zeigefinger an die Zimmerdecke.

Thomas nickte. Er hatte verstanden. Ich würde oben auf dem Dach auf ihn warten. Wenn er dieses Gespräch erst einmal beendet hatte, würden zwei oder drei Zigaretten wohl nicht reichen.

Ich verließ das Zimmer, holte mir schnell einen meiner Romane und meine Daunenjacke und fuhr dann in den obersten Stock. Wieder hatte sich keine Menschenseele hierher verirrt. Ich blickte durch die breite Glasfront nach draußen. Es regnete. Ich hatte vorhin in Thomas' Zimmer gar nicht bemerkt, dass es damit angefangen hatte. Die Detektivarbeit am Telefon hatte mich wohl so sehr in Anspruch genommen, dass ich kein einziges Mal aus dem Fenster gesehen hatte.

Ich setzte mich auf eines der Sofas und schlug mein Buch auf. Natürlich war ich wieder viel zu aufgewühlt, um auch nur einen einzigen Satz bewusst aufzunehmen. Naja, Andreas Steinhöfel würde es mir wohl nicht weiter übel nehmen, wenn ich seinen Roman 'Die Mitte der Welt' erst dann las, wenn ich wieder zu Hause war. Was ich hier in der Klinik so alles erlebte, war ohnehin aufregender als jede erfundene Geschichte. Ich legte das Buch zur Seite und schlüpfte in meine Daunenjacke. Wenn es schon mal regnete, musste ich das schließlich ausnützen. Ich schloss den Reißverschluss bis zum Kinn, holte die dünne Kapuze aus dem Jackenkragen und zog sie mir über den Kopf. So verpackt trat ich hinaus auf die Terrasse.

Ich stellte mich ganz nach vorne an das Geländer, ließ den Regen auf mich herabtropfen und blickte in die Ferne. Nicht, dass man von hier aus besonders weit sehen konnte. Hinter den Baumskeletten entlang der Straße waren gerade noch die Häuser eines Nachbarortes zu erkennen, der höchstens zwei Kilometer entfernt lag. Ich zog die Kapuze noch etwas fester zu und vergrub meine Hände dann in den Jackentaschen. Der Wind kam von hinten und blies mir die Regentropfen so wenigstens nicht ins Gesicht. Ich ließ meinen Blick schweifen und fragte mich, ob es irgendwo da draußen einen netten, einfühlsamen schwulen Jungen gab, für den Sex nicht unbedingt an erster Stelle stand und der es vielleicht stattdessen genauso genoss wie ich, mit einer Kapuze auf dem Kopf im Regen zu stehen und den Regentropfen zuzuhören, wie sie auf die Kapuze niederprasselten. Oder war ich da vielleicht doch der einzige auf diesem Planeten, der so etwas mochte? Und wie sollte ich diesen anderen Jungen, falls er denn wirklich existierte, jemals finden?

'I'm a creep. I'm a weirdo. What the hell am I doing here? I don't belong here.'

Der Text eines Songs von Radiohead ging mir durch den Kopf. Eigentlich wusste ich gar nicht so genau, ob der überhaupt zu meiner Situation passte. Vielleicht sollte ich endlich mal genauer hinhören, wenn das Lied wieder einmal im Radio gespielt wurde. Zumindest gefiel mir dieser Refrain irgendwie.

Nach einer Viertelstunde wurde es mir dann doch zu nass. Irgendwie war die dünne Kapuze nicht besonders wasserdicht. Ich ging wieder nach drinnen und entledigte mich meiner inzwischen patschnassen Daunenjacke. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Thomas jetzt bald kommen würde. Er war einfach nicht der Typ, bei dem ich mir vorstellen konnte, dass er stundenlange Telefongespräche führte, auch wenn am anderen Ende der Leitung sein Boyfriend war, den er seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Aber vielleicht war Stefan ja gesprächiger. Und der würde wohl auch genug zu erzählen haben. Zum Beispiel von seinem Coming-Out bei seiner Familie.

Nervös lief ich eine Weile hin und her und hörte zu, wie der Aufzug mal nach oben, mal nach unten fuhr. Bis hier herauf kam er die ganze Zeit über nicht. Irgendwann setzte ich mich dann wieder auf die Couch.

Als nach über einer Stunde doch endlich die Fahrstuhltüre aufging, hatte ich schon fast nicht mehr damit gerechnet, dass Thomas überhaupt noch kommen würde. Eigentlich hatte ich ja auch erwartet, dass er dann zumindest über das ganze Gesicht strahlen würde, aber als er jetzt tatsächlich hier auftauchte, wirkte er eher deprimiert.

»Oh Mann, ich hab da wohl echt ganz schön Scheiße gebaut«, war das erste, was er sagte. »Stefan ging's ganz schön dreckig in letzter Zeit. Und ich bin schuld dran, weil ich mich nicht bei ihm gemeldet hab!«

»Und sonst? Was ist jetzt mit euch beiden?« wollte ich neugierig wissen.

Endlich lächelte er mich an.

»Er will herkommen, gleich morgen!«

»Hey, dann ist also zwischen euch alles in Ordnung?«

»Ich glaub schon.«

Na also, jetzt strahlte er doch noch.

»Meinst du, er kann hier über Nacht bleiben, so über's Wochenende?« wollte Thomas von mir wissen. Er schien bei diesem Gedanken ganz aufgeregt zu sein.

»Wer sollte was dagegen haben? Außer den Putzfrauen kommt ja niemand in die Zimmer. Und am Wochenende kümmert sich kein Schwein darum, wer alles in der Klinik rumläuft.«

»Nicht, dass wir Ärger bekommen.«

»Die werden uns schon nicht gleich rauswerfen.«

Hoffentlich stimmte das auch. So ganz sicher war ich mir da dann doch nicht. Während ich noch darüber nachdachte, holte Thomas seine Zigaretten und sein Feuerzeug aus einer der Taschen seiner Cargopants. Darauf hatte ich ja schon gewartet.

»Scheiße, jetzt hab ich nicht mal meine Jacke mitgebracht«, fluchte er, als er draußen den Regen sah.

»Deine hat ja sowieso keine Kapuze, oder?«

»Nö.«

»Du kannst ja meine nehmen.«

»Und du?«

»Naja, ich bleib halt in der Tür stehen. Außerdem war ich grad schon draußen. Ich muss da jetzt nicht noch mal raus.«

Eigentlich hatte ich ja jetzt mit irgendeiner Reaktion von ihm gerechnet. Dass er mir die Frage stellen würde, warum ich denn bei diesem Wetter überhaupt draußen gewesen war. Oder dass er vielleicht gleich irgendeine Bemerkung über meine Leidenschaft für Kapuzen machen würde. Aber ich hatte wohl vergessen, dass ich es hier mit Thomas zu tun hatte. Und der hatte eben irgendwie kein so rechtes Gespür dafür, was andere Leute so fühlten. Wie anders war es zu erklären, dass er bis gestern anscheinend nicht einen Moment daran gedacht hatte, dass Stefan sich vielleicht wahnsinnige Sorgen um ihn machen könnte?

So reichte ich ihm einfach meine Daunenjacke. Die war inzwischen wieder ziemlich trocken. Er schlüpfte hinein und schloss den Reißverschluss. Während er sich die erste Zigarette anzündete, öffnete ich ihm die Türe und er trat hinaus ins Freie. Mein Blick fiel auf die Kapuze, die lose an seinem Rücken herabhing. Eigentlich hätte ich ihn ja gerne mal mit dieser Kapuze auf dem Kopf gesehen, aber da er sie nicht von selbst aufsetzte, wollte ich ihn auch nicht darauf ansprechen. Er lehnte sich mit der Schulter gegen die Glasfront. So dicht an der Wand war er sowieso ganz gut vor dem Regen geschützt. Ich stellte einen Fuß in die Tür und sah durch den offenen Spalt zu ihm hinaus.

Schweigend rauchte er die erste Zigarette. Seine kurze Euphorie war bereits wieder verflogen und hatte einer eher nachdenklichen Stimmung Platz gemacht. Im Moment schien ihm nicht nach Reden zumute zu sein. Als er sich den zweiten Glimmstängel angesteckt hatte, sah er mich an.

»Mann, wenn du nicht gewesen wärst ...« sagte er leise. »Ich glaub, von alleine hätte ich da nie angerufen.«

Naja, damit hatte er wahrscheinlich Recht.

»Stefan hat die erste Woche jeden Morgen vor der Schule auf mich gewartet. Der hat extra die Schicht getauscht deswegen. Mann, dabei war ich die ganze Zeit bei ihm im Krankenhaus! Und er läuft währenddessen in der ganzen Stadt rum und sucht nach mir!«

Thomas schüttelte fassungslos den Kopf.

»Warum hab ich Idiot mich nie bei ihm gemeldet? Ich hätte ja im Krankenhaus nur irgendwen nach ihm fragen müssen. Es hätte ihm ja nur irgendjemand Bescheid sagen müssen, dass ich da rumlieg!«

»Hey, du hast halt vorher nie die Erfahrung gemacht, dass sich jemand so richtig Sorgen um dich macht.«

Die Erklärung schien Thomas nicht ganz zufrieden zu stellen. Wieder setzte Schweigen ein. Während er darüber nachbrütete, was er in den letzten Wochen alles hätte anders machen können, fragte ich mich, was Stefan ihm in der letzten Stunde wohl noch so alles erzählt hatte.

»Kannst du dich mal schlau machen, wie Stefan am besten vom Bahnhof hierher kommen kann?« fragte mich Thomas dann, als er die zweite Zigarette ausdrückte.

Schon wieder sorgte er dafür, dass ich auch wirklich immer gut beschäftigt war.

»Vielleicht kann Ludwig ihn ja ...«, setzte ich an.

Ich brach den Satz ab. Das war keine gute Idee. Zumindest dann nicht, wenn wir Stefan hier so einfach ohne Absprache mit Frau Fröschl oder der Klinikleitung hereinschmuggeln wollten.

»Naja, sicher gibt's irgend 'ne Busverbindung«, sagte ich stattdessen. »Ich kann ja mal ganz unauffällig an der Rezeption nachfragen.«

»Hey, gut!«

»Vom Ort aus muss er dann eben laufen. Oder wir holen ihn da ab.«

Ich hatte keine Ahnung, wo es in Bad Neuheim überall Bushaltestellen gab. Danach würde ich mich wohl auch erkundigen müssen.

»Kannst du gleich mal gehen? Dann kann ich Stefan nachher noch mal anrufen.«

Eigentlich hatte ich ja gehofft, zuerst einmal noch mehr über das erste Telefonat zu erfahren.

»Ich wart solange hier«, fügte Thomas noch hinzu.

Wenn er mich so drängte, dann blieb mir wohl nichts anderes übrig. Ich ließ ihn also mit meiner Daunenjacke alleine da draußen stehen, gab die Hoffnung endgültig auf, ihn doch noch mit der Kapuze auf dem Kopf sehen zu dürfen, und fuhr hinunter ins Erdgeschoss.

In der Cafeteria traf ich auf die drei Mädchen. Ich erzählte ihnen kurz von den neuesten Ereignissen und von unserem Plan mit Stefan. Sofort sagten sie mir ihre Unterstützung zu. Naja, auf die Drei war eben Verlass.

Dann fragte ich an der Rezeption nach den Busverbindungen zwischen der Stadt und Bad Neuheim. Ohne irgendwelche lästigen Nachfragen erhielt ich eine Kopie des kompletten Fahrplans. Sogar eine kleine Karte von Bad Neuheim war darauf zu sehen, auf der die Haltestellen markiert waren.

Als ich wieder zurück nach oben kam, saß Thomas bereits drinnen auf dem Sofa. Meine Jacke lag auf einem der Sessel.

»Und? Fährt ein Bus?« wollte er sofort wissen.

»Naja, die Busverbindung hierher ist nicht so besonders. Aber um 17.25 Uhr geht ein Bus. Wenn Stefan den nimmt, dann ist er kurz vor sechs in Bad Neuheim. Dann hätten wir immerhin mehr als genug Zeit, um nach der Gruppensitzung in den Ort zu laufen und ihn an der Haltestelle am Ortsplatz abzuholen. Passt doch ganz gut, oder?«

Thomas war richtig begeistert. Naja, dann hatte sich meine Recherche wenigstens gelohnt.

Ich ging mit ihm hinunter in sein Zimmer. Er wollte Stefan gleich von den Neuigkeiten berichten. Diesmal hatte er ihn auch sofort am Telefon und erzählte ihm, dass er kommen und über das Wochenende hier bleiben konnte.

Dann reichte er mir den Hörer, damit ich kurz mit Stefan die Einzelheiten besprechen konnte. Naja, Thomas hatte eben kein großes Organisationstalent. Auf diese Weise lernte ich Stefan zumindest schon mal am Telefon kennen.

»Hi Stefan, ich bin David«, sprach ich in den Hörer.

»Hallo! Thomas hat mir schon ein bisschen was von dir erzählt.«

»Aha«, antwortete ich kurz.

Was genau hatte Thomas da wohl über mich gesagt?

»Du warst es also, der Thomas endlich dazu gebracht hat, mich anzurufen.«

»Ja, sieht so aus.«

»Hey, da muss ich mich dann wohl echt bei dir bedanken.«

»Schon okay.«

Am anderen Ende der Leitung hörte ich Stefan seufzen.

»Warum hat er sich denn nicht früher gemeldet? Er weiß doch, wie viel er mir bedeutet.«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

»Naja, es war gar nicht so einfach, dich ausfindig zu machen«, stammelte ich in den Hörer.

Noch einmal hörte ich Stefan seufzen. Er schien immer noch ziemlich mitgenommen zu sein.

Dann erklärte ich ihm das mit der Busverbindung. Es stellte sich heraus, dass er sich inzwischen bereits selbst nach den Zugfahrplänen erkundigt hatte. Er hatte einfach nicht still herumsitzen und darauf warten können, bis Thomas sich wieder bei ihm meldete. Dabei hatte man ihm auch gleich mitgeteilt, mit welchem Bus er weiterfahren musste, um nach Bad Neuheim zu gelangen. Eigentlich brauchte ich ihm nur noch zu erklären, an welcher Haltestelle wir auf ihn warten würden. Er schien ein recht cleveres Kerlchen zu sein. Außerdem erschien er mir sofort sympathisch.

Als ich alles Notwendige mit ihm geklärt hatte, überließ ich Thomas wieder den Hörer. Jetzt würden die beiden ja hoffentlich ohne mich klar kommen. Inzwischen war Kevin auch sicher vom Gespräch mit Frau Fröschl und von der Maltherapie zurück. Mal sehen, was der so zu erzählen hatte. Außerdem wollte Kevin jetzt sicher auch wissen, was sich inzwischen bei Thomas und Stefan ergeben hatte. Und das berichtete ich ihm dann auch.

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